Der Zen-Weg: dranbleiben lohnt sich
Immer öfter kommen Menschen in meinen Zen-Kursen ins Einzelgespräch und sagen: „Ich hab schon so viel Verschiedenes meditiert und weiss jetzt gar nicht, wie ich meditieren soll. Soll ich jetzt einen Bodyscan durchführen oder mich auf den Atem konzentrieren? Aber wo? Da wo der Atem aus der Nase tritt oder beim Heben und Senken der Bauchdecke? Oder auf den Atem als Gesamtvorgang? Oder soll mich auf ein Mantra (wie OM, MU) oder die Silbe HUM im Herzchakra konzentrieren oder mit einem Koan meditieren oder soll ich eine geführte Metta-Meditation per Handy mit Kopfhörer hören? Oder soll ich nicht doch lieber das Jesusgebet beten? Oder vielleicht Tonglen? Oder einen Dämon füttern? Oder Reinigungsübungen und Niederwerfungen machen und anschliessend meinen Rimpoche als Gottheit visualisieren?“
Nie zuvor war uns eine solche Fülle von Meditationsformen in Kursen, Seminaren, Meditationszentren, im Internet, auf Youtube, per Handy, in Fachmagazinen, Zeitschriften und Büchern zugänglich wie heute. Das hat Konsequenzen für unsere Praxis. Viele wechseln ständig die Meditationsmethode und wissen schliesslich nicht mehr, wie sie meditieren sollen und was es ihnen überhaupt bringt.
Dieser Beitrag handelt davon, dass es sich lohnt, an einer Kernmeditationspraxis wie dem Zen – trotz der Fülle von Angeboten und Möglichkeiten – mit liebevoller Entschiedenheit dran zu bleiben und im Laufe der Zeit diese Praxis durch weitere Methoden sinnvoll zu ergänzen.
Alltag ist der Weg
«Die Schatztruhe öffnet sich, und wir gebrauchen die Schätze nach Belieben.»
Zen Koan
Jede spirituelle Praxis führt uns zu Erfahrungen tiefer innerer Stille, Einheit von allem mit allem, Leere, Non-Dualität, oder wie wir diese Erlebnisse auch immer benennen wollen. Solche Erlebnisse führen zunehmend zu inneren Qualitäten wie Gelassenheit, Klarheit, tiefer Geborgenheit, absoluter innerer Freiheit, Offenheit, Vertrauen, Liebe, Mitgefühl, tiefem Glück, Dankbarkeit, Humor und Leichtigkeit im Umgang mit den Widersprüchen des Daseins.
Der Alltag ist der Weg! – wie ein Zen-Koan heisst. Wenn wir mal auf die eine, dann wieder auf eine andere Art und Weise meditieren, dann ist diese Transferleistung in den Alltag kaum zu schaffen, weil das Meditationsobjekt, sei es beispielsweise ein Wahrnehmungsvorgang, der Körper, ein Mantra, ein Wort, ein Zen-Koan, eine Meditationsgottheit, etc., ständig wechselt.
Der Sinn einer Meditationsübung liegt darin, dass das Meditationsobjekt zu einer immer präsenten Selbstverständlichkeit wird, die sich tief in unser Bewusstsein und unsere Wahrnehmung eingegraben hat. Dies gelingt nur, wenn wir einige Jahre und eine gewisse Anzahl von Stunden bei einem Meditationsobjekt verweilen. Das fällt vielen Menschen heute schwer. Denn bei einem Meditationsobjekt zu bleiben heisst, dass es einem langweilig wird damit. Diese Langeweile ist jedoch ein zentrales, wichtiges Element jedes spirituellen Weges. Sie auszuhalten gehört dazu! Die Aufmerksamkeit immer wieder von Neuem mit einer liebevollen Entschiedenheit bewusst auf dasselbe Meditationsobjekt zu lenken ist Arbeit. Im Zeitalter der neuen Medien und Handys fällt es uns zunehmend schwerer, Langeweile auszuhalten. Wir streben stets nach neuen Reizen, die unser Dopaminsystem – das Belohnungssystem unseres Gehirns – aktivieren. Neues ist immer mit internen Belohnungsanreizen und guten Gefühlen verbunden. Und wenn ein Meditationsobjekt zur Gewohnheit und somit langweilig wird, dann sind wir schnell bei einer anderen Übung, ohne dass das bisherige Meditationsobjekt Wurzeln in unserem Alltag schlagen konnte und seine Wirkung wirklich entfalten konnte.
Wenn wir mal da und mal dort kratzen, werden wir in den Dingen kaum das Gold wahrnehmen, das wirklich in ihnen steckt. Erst dann, wenn wir wirklich an einer Sache dran bleiben, sie vertiefen, stossen wir auf die wahren Schätze. Dann erst öffnet sich die Schatztruhe und wir gebrauchen die Schätze nach belieben. Commitment, Geduld und Durchhaltevermögen sind die inneren Haltungen, die mit im inneren Team sein müssen, wenn der spirituelle Weg den Alltag durchdringen soll.
Alle Wege führen zum selben Ziel
Schaut man sich die wissenschaftlichen Arbeiten im Bereich Meditationsforschung an, dann fallen zwei Dinge auf.
Einerseits gibt es zunehmend Arbeiten, welche die unterschiedlichen Wirkungen von verschiedensten Meditationsformen belegen. Andererseits entstehen seit Jahren wissenschaftliche Arbeiten, die zeigen, dass alle Meditationsformen dieselben physiologischen Auswirkungen auf den menschlichen Körper haben und zu denselben inneren Erfahrungen führen. Beide Ansichten sind wahr, aber eben nur zum Teil.
Wer sich auf ein Meditationskissen setzt und sich nicht gross bewegt wird Folgendes erleben – egal welche Form von Meditation praktiziert wird.
Aktivierung des Parasympathikus und Weitung des Vagusnervs
Der Atemrhythmus wird langsamer: Je länger man meditiert, desto langsamer wird die Atmung. Parallel zum Atemrhythmus verlangsamt sich der Herzrhythmus. Atem- und Herzrhythmus stehen in Wechselwirkung. Im Gehirn werden Botenstoffe ausgeschüttet, die für Entspannung zuständig sind. Das Atemzentrum, das sich im Stammhirn befindet, verändert sich nachweislich.
In den ersten Stunden und Tagen eines Meditationsretreats nimmt die Müdigkeit zu, der Tiefschlaf verlängert sich und Traumschlaf nimmt zu, da der Parasympathikus, der für die Entspannungsantwort des Körpers zuständig ist, erhöht aktiv ist. Der Vagusnerv, der im Stammhirn beginnt, mit den Gesichtsmuskeln, dem Kehlkopf, den Rachenmuskeln und mit fast allen inneren Organen, wie Herz, Lunge, dem Magen, der Leber, Bauchspeicheldrüse, Milz, dem Darmsystem, den Nieren und den Geschlechtsorganen in Verbindung steht, weitet sich. Damit leitet er die parasympathische Entspannungsantwort an alle inneren Organe weiter. Der Vagusnerv leitet aber nicht nur Informationen vom Zentralnervensystem zu den Organen. Er sammelt vielmehr zu 80-90% Informationen aus den inneren Organen und leitet diese ins Zentralnervensystem weiter.
Das Immunsystem arbeitet nach etwa drei Meditationstagen zunehmend besser. Entzündliche Prozesse werden eingedämmt. Nach etwa drei Tagen wird parallel zum Parasympatikus auch der Sympathikus, das Nervensystem, das für Wachheit und Aktivierung zuständig ist, erhöht aktiv. Es entsteht also eine besondere Konstellation: tiefste Entspannung zugleich mit erhöhter Wachheit und Bewusstheit.
Je langsamer der Atem, desto weniger werden Schmerzen wahrgenommen und empfunden. Forschungen zeigen: die Schmerzreduktion korreliert direkt mit der Atemreduktion. Und je langsamer die Atmung ist, desto stiller wird das Bewusstsein und desto mehr tauchen wir ein in ich-lose, non-duale Erlebnisse reiner Präsenz.
Atemreduktion x Lungenvolumen x Zeitdauer x Absorptionsfähigkeit = Tiefe der Meditation
Die Meditationstiefe, so zeigen Forschungen, ist unabhängig von bestimmten Meditationsformen. Sie steht in Wechselwirkung mit der Atemreduktion, der Absorption im Meditationsobjekt und der Meditationsdauer. Absorption ist die Fähigkeit, sämtliche mentalen Ressourcen gebündelt auf ein Wahrnehmungsobjekt auszurichten. Genau dies geschieht, wenn wir uns in ein Meditationsobjekt vertiefen. Die Absorptionsfähigkeit nimmt zu, je langsamer der Atemrhythmus wird und je länger wir meditieren.
Die Fähigkeit der Atemreduktion hängt direkt mit der Lungenkapazität zusammen. Die Kapazität der Lunge, Sauerstoff aufzunehmen, kann durch Ausdauertraining, Kraftsportarten, Apnoetauchen, Yoga und yogischen Atemübungen (sog. pranayamas) gesteigert werden.
Was bedeutet dies nun für unsere Meditationspraxis? Anstatt alternierend unterschiedlichste Meditationsübungen zu praktizieren, ist es viel sinnvoller, bei einer Meditationsform zu bleiben und ergänzend Sport, Yoga oder Atemübungen zu machen, weil dadurch die Meditation tiefer wird.
Bewusstseinsklarheit, Realitätsgrad und Meditationstiefe
Durch fortgesetzte Meditation wird das Bewusstsein klarer, wir sind in unserer inneren Mitte. Wir sind nicht identifiziert mit unseren Teilpersönlichkeiten und deren Erwartungen und Vorurteilen. Diese innere Mitte ist daher ruhig und alle Sinne sind gereinigt, sie sind klar, unverstellt.
Je länger wir meditieren, desto mehr verdichtet sich das Realitätsgefühl und überträgt sich auf sämtliche Arten des Erlebens. Jede Erlebnisform wird intensiver. Der Realitätsgrad geht einher mit der Bewusstseinsklarheit und der Tiefe der Meditation. Daher schmeckt das Essen während eines Retreats viel besser und intensiver und alle Wahrnehmungen sind viel nuancierter, auch Träume, Phantasien, Visualisierungen, Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen.
Fazit
Es macht Sinn, jahrelang und/oder viele Stunden in einem Sesshin/Retreat an einer Praxis dran zu bleiben, bis eine Meditationsübung und ein Meditationsobjekt so sehr Wurzeln geschlagen haben, dass sie unseren Alltag durchdringen und sich eine tiefe Gelassenheit, ein tiefes Glück, Offenheit, Geborgenheit etc. als Grundstimmung, die uns in allen Alltagssituationen begleitet, in unser Körperempfinden eingesenkt hat. Denn unser Körperempfinden durchdringt alle unsere Teilpersönlichkeiten/inneren Haltungen.
Wenn wir mit einer Meditationspraxis so weit gekommen sind, dann macht es Sinn, sich bewusst anderen Meditationsformen zuzuwenden, weil sie andere Schwerpunkte setzen und weil wir dadurch Neues lernen können und uns neue Fähigkeiten und innere Grundhaltungen aneignen können, die sich als Grundstimmungen in unseren Körper einsenken und auf diese Weise unseren Alltag durchdringen.
Peter Widmer, Zen-Lehrer
Dieser Text ist in der ungekürzten Originalversion hier nachzulesen.