Interview mit Donata Schoeller
Focusing heisst sich einlassen
In diesem Jahr bietet das Lassalle-Haus neu einen
Focusing-Jahreskurs an. Kursleiterin Donata Schoeller
erklärt, worum es hier geht.
Können Sie uns in 3 Sätzen beschreiben, was Focusing ist?
Focusing ist die Entdeckung der Vielschichtigkeit, des Informationsreichtums und der Präzision in den eigenen Gefühlen, Erlebensweisen und im körperlichem Gespür.
Wir modernen Zeitgenossen in unseren vollgepackten
und eiligen Alltagen haben häufig keine Tuchfühlung und
kaum eine Ahnung davon, wie tief verankert und reich an Zusammenhängen jeder erlebte Moment ist. Im Focusing
lernt man zudem, für diesen Reichtum eine Sprache zu finden, die das Erlebte nicht beschneidet, sondern aufblühen lässt,
so dass wir uns selbst und uns gegenseitig viel verständlicher
werden.
Wie sind Sie auf Focusing gekommen?
Zufall. Nach einer Dissertation in Philosophie lebte ich, wie viele andere auch, vor allem im Kopf. Ich bemerkte gar nicht mehr,
wie viel ich weggeschnitten hatte und auch nicht, wie viel der Körper ‚trug’ und mir ‚mitteilte’. Es war ein Zettel im Briefkasten,
eine Einladung zu einem Vortrag des amerikanischen Philosophen Eugene Gendlin. Ich ging und war völlig fasziniert. Gendlin sprach wenig und machte vor allem Übungen mit uns. Wie konnte dieser Mensch so philosophisch denken und andere dabei
so vertieft in ihr Erleben führen? In intensiven Gesprächen, die dann ein paar Jahre später zwischen ihm und mir begannen,
sagte er mir einmal: „man muss immer beidem zuhören: dem Kopf und dem Bauch, aber wenn der Bauch etwas mitzuteilen hat, oder ein Unbehagen oder sonst etwas spürt, gehe ich immer zuerst dahin, und höre dem zu, sage aber meinem Kopf – ich höre Deine Einwände, Kritiken und klugen Ideen auch, aber später.“
Was hat sich in Ihrem Leben verändert, seit Sie sich damit befassen?
Sehr vieles. Ich konnte meine Kinder viel besser verstehen, egal in welcher Phase sie waren. Freundschaften haben sich vertieft, weil ich es meinen FreundInnen natürlich beigebracht habe und eine ganz andere Gesprächskultur begann. Beruflich wurde es viel befriedigender und zugleich aufregender, weil ich einen anderen inneren Kompass hatte, der mir zeigte, was sich stimmig anfühlt und was nicht. Zugleich wird es nicht leichter, weil man sehr viel mehr fühlen kann, sich vor Leid weniger verschliessen kann, und sehr viel mehr spürt, was man tut oder getan hat. Man wird sehr viel beweglicher im Focusing, was den Umgang mit tiefen, schweren, komplizierten oder wunderbaren Gefühlen angeht.
Für wen ist Focusing interessant?
Ich glaube für alle. Für Menschen, die in psycho-sozialen Berufen sind, ist es natürlich ein sehr wertvolles Tool. Aber für alle anderen auch, denn es geht ja vor allem darum, das eigene Menschsein besser ausloten zu können, viel befriedigender zu kommunizieren, sich und andere genauer zu verstehen.
Bedeutet Focusing einfach "auf die eigene Intuition hören"?
Intuition ist ein viel gebrauchtes Wort, von dem man nicht so genau weiss, was es eigentlich bedeuten soll. Wenn Intuition bedeutet, seinen eigenen Ideen zu trauen, auch wenn man nicht genau weiss, woher sie kommen, und auf die leisen Impulse
zu hören, die irgendwie wichtig erscheinen, aber noch keine guten Gründe haben, dann ist Focusing eine Praxis, die sehr intuitionsfreundlich ist. Zugleich verhindert das Focusing, auf jede erstbeste Idee aufzuspringen, sondern Ideen oder sogenannte Intuitionen aufmerksam und fürsorglich zu explorieren, dass sie sich weiter entfalten können. Dadurch gewinnt man vertrauen, wie man mit dem eigenen intuitiven Reichtum umgehen kann. Focusing ist eine Praxis, die die Wahrnehmungsfähigkeit stärkt,
so dass man intuitive Impulse besser bemerken und ihnen den Raum geben kann, die sie brauchen, um sich zu entwickeln.
Worin unterscheidet sich Focusing von MBSR?
Auf einer grossen Mindfulness-Konferenz in Boston wurde ich nach meinem Vortrag zu den Methoden des Focusing umringt
und mit Fragen überschüttet: „Wo sind die «Focusing»-Experten?“ „Wir brauchen sie! Sie geben uns, was uns fehlt: eine Sprache für unser Erleben“.
Das heisst, die beiden Methoden ergänzen sich?
Genau. Focusing und MBSR sind äusserst wirksam, um mehr Spielraum im Umgang mit Alltagsherausforderungen und dem Stress zu gewinnen. Die Wirksamkeit beider Methoden ist durch wissenschaftliche Studien erwiesen, wobei die Mindfulness-Bewegung durch ihre Nähe zur klinischen Praxis eine größere Flut an wissenschaftlichen Arbeiten hervorgebracht hat. Obwohl Eugene Gendlin Philosoph und Therapeut, und nicht Naturwissenschaftler war, wurde er dennoch bereits in den 60er Jahren
für seine wissenschaftliche Arbeit zur Wirksamkeit des Focusing einige Male von der American Psychology Association aus-
gezeichnet.
Gendlin, der von den Nazis fliehen musste, ging es mit der Entwicklung des Focusing nicht allein darum, dass man mit dieser Praxis besser und stressfreier lebt, sondern dass man zu einer grösseren Klarheit über sich selbst, seine Motive und seine
Handlungen kommt. Dann ist man weniger manipulierbar (von welchen Menschen oder politischen oder wirtschaftlichen
Idealen auch immer), und kann zu selbstständigeren Haltungen und Denkweisen kommen. Focusing, so seine Überzeugung, macht einen eigenständiger und denkfähiger.
Dann wäre Focusing auch in der Burnout-Prävention und -Behandlung hilfreich?
Ja, denn im Burnout verliert man die Tuchfühlung zu sich selbst, man arbeitet und lebt nur noch für andere und anderes, man spürt nicht mehr, was für einen selbst (lebens-)wichtig ist, und man hat keinen Freiraum mehr, für sich zu sorgen, für sich zu denken und zu wollen. Aber erst wenn man den wieder hat, kann man auch für anderes und andere gut sorgen. Die ersten Schritte im Focusing lehren, diesen Freiraum herzustellen. Zugleich kann man sich im Focusing gemäss eigenem Tempo und Rhythmus selbst besser verstehen, gerade soweit, wie es momentan möglich ist. Dadurch lässt sich die Krise des Burnouts tatsächlich auch als neue Chance gestalten, von der aus man sehr viel grundsätzlicher neu ansetzen und andere Wege finden kann.