07.01.2020 14:56
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Schlüsselqualifikation: zuhören können

Im Gespräch mit Tony Styger, langjähriger Leiter der «Dargebotenen Hand» und Dozent im Lehrgang Spiritual Care.

Herr Styger, worauf sind Sie besonders stolz in Ihrem Leben?

Ich bin für Vieles dankbar in meinem Leben. Dazu gehört die Familie, meine Frau und meine Kinder, seit einigen Monaten auch unser erstes Grosskind. Eine liebe Partnerin an der Seite zu haben, ist ein Geschenk. Die Geburt unserer beiden Kinder war ein sehr emotionales und besonders schönes Erlebnis. Für sie zu sorgen und sie ins Leben zu begleiten, war eine verantwortungsvolle Aufgabe, die uns gelungen ist. Ich kann auf ein reiches Berufsleben zurückblicken. Seelsorger war ich immer gerne, einerseits in  Pfarreien und die letzten 18 Jahre bei der Dargebotenen Hand Zürich (Telefonseelsorge). Dabei hatte ich auch Glück, bei den meisten Tätigkeitsfeldern auf engagierte Mitarbeitende zählen zu können.

 

Das ist auch eine der Fragen, die Sie im Rahmen des Projekts «Lebensspiegel» alten und kranken Menschen stellen: was löst die Frage bei den Betroffenen aus?

In der Regel zuerst Sprachlosigkeit! Niemand möchte einfach so stolz auf sich sein! Viele münzen die Frage um und erzählen, was ihnen gelungen ist und wofür sie dankbar sind. Da gibt es eine grosse Vielfalt von Themen wie berufliches und gesellschaftliches Engagement, Familie, soziales Netzwerk, Freiwilligenarbeit und Hobby. Mit dem «Lebensspiegel» lernen die Betroffenen, ihr eigenes Leben wertzuschätzen; wir helfen ihnen, ihr Leben zum Glänzen zu bringen.

 

Fragen stellen, zuhören – das stand auch bei Ihrer langjährigen Tätigkeit bei der Dargebotenen Hand im Zentrum. Was war dabei die grösste Herausforderung?

Es tönt plakativ und gewissermassen verkürzt, aber das Wichtigste war, keine billigen und ungebetenen Ratschläge zu erteilen! Meinen, Lösungen präsentieren zu müssen, ist der grösste Stolperstein, nicht nur für die professionellen Helferinnen und Helfer, sondern auch im privaten Umfeld. Jedes vernünftige Gespräch lebt zuerst vom aktiven Zuhören. Dazu gehören Respekt, Offenheit, Einfühlsamkeit, Toleranz, Interesse und eine gesunde Portion Zurückhaltung, dass das Gegenüber jetzt im Zentrum steht und nicht meine tollen Ideen, klugen Lebenserfahrungen und mein grandioses Wissen.

 

Spiritualität und Begegnung heisst das Modul im Lehrgang Spiritual Care, das Sie mitgestalten: Was geben Sie hier den Teilnehmenden mit?

Bei einer Begegnung mit einem Menschen in einer Krise geht es darum, Ohnmacht auszuhalten und mit voller Aufmerksamkeit da zu sein! Ich lasse mich vom Gegenüber berühren und zeige dies in geeigneter Form. Dabei versuche ich, Gefühle, Bedürfnisse und Wünsche des Gegenübers in Worte zu fassen. So verstanden beinhalten z.B. noch so gut gemeinte Ratschläge eine Fluchttendenz vor der eigenen Ohnmacht, die weniger würde, wenn es dem Gegenüber wieder besser ginge.

Was hat Ihnen selbst Kraft gegeben, um das Angebot der «Dargebotenen Hand» am Leben zu halten?

Das Telefon ist ähnlich wie das Internet eine «Zaubermaschine». Sie hält die Nähe fern und zieht die Ferne in die Nähe der Intimität. Beim Telefonieren, noch stärker beim Mailen und Chatten, entsteht die scheinbar paradoxe Situation einer Nähe durch Distanz. Sie hilft, Scham zu überwinden und tabuisierte Themen anzusprechen. Es gibt Gedanken, Gefühle und Probleme, die man keinem Mensch so direkt sagen, aber zugleich nicht für sich behalten möchte.

Die Ratsuchenden wissen, dass wegen der Anonymität kein Rückschluss auf ihre Person gemacht werden kann. Das ist insbesondere für Menschen mit suizidalen Gedanken wichtig. Sie können sich aussprechen, ohne befürchten zu müssen, dass jemand gegen ihren Willen aktiv wird.

Täglich knapp hundert Mal zu erleben und zu erfahren, dass die Dargebotene Hand emotionale Erste Hilfe leistet oder Begleitung über längere Zeit anbietet, das war all die Jahre meine Motivation.

 

Was sind die wichtigsten Orientierungspunkte bei der Begleitung von Menschen in prekären Situationen?

Das christliche Menschenbild stand immer im Zentrum: Menschen begleiten und sich von ihnen in mit allen Verletzungen und dunklen Seiten berühren zu lassen. Das Leben vieler Menschen, die sich an die Dargebotene Hand wenden, ist prekär. Die Aufgabe am Telefon oder im Internet besteht nicht darin, Ratsuchende auf einen neuen Weg zu bringen, sondern in ihrem Leben Ruhe einkehren zu lassen, bis sich Verwirrungen und «Verstellungen» von selbst legen. Nicht etwas zu tun oder zu bewirken, sondern ganz einfach in der gesammelten Ruhe des eigenen Daseins gegenwärtig zu bleiben, ist die ganze Bedingung einer wirklich wohltuenden Ausstrahlung auf einen anderen Menschen. Man kann diese unaufgeregte Stille des eigenen Herzens nicht «machen» oder erzwingen! Sie sollte in sich selbst stimmen.

 

Tony Styger ist katholischer Theologe und leitete 18 Jahre lang die Dargebotene Hand Zürich (Tel 143). Seit seiner Pensionierung engagiert er sich im Projekt «Lebensspiegel» der Andreas Weber Stiftung. Ausserdem ist er im Bereich Spiritual Care, im Flughafen-Care-Team und als Notfallseelsorger tätig.

 

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