Die Implementierung von Spiritual Care in der Organisation
Im Gespräch mit Franziska Hildebrand Alberti
Franziska Hildebrand Alberti ist Dozentin im Lehrgang Spiritual Care mit Schwerpunkt «Implementierung von Spiritual Care in der Organisation». Im Gespräch stellt sie einige Eckpfeiler aus der Organisationsentwicklung vor und zeigt auf, welche Schritte hilfreich sind, um Spiritual Care in der Organisation einzuführen und auch Einzelinitiativen nachhaltig zu verankern.
Die Implementierung von Spiritual Care ist ein Veränderungsprozess innerhalb der Organisation. Was kann die Organisationsentwicklung dazu beitragen?
In der Organisationsentwicklung werden Organisationen ganzheitlich betrachtet und das ist notwendig, wenn man ein Thema wie Spiritual Care in der Organisation einführen will. Der ganzheitliche Blick beinhaltet auch, dass man sich zuerst die Frage nach dem «wozu» stellt.
Was soll daraus werden, inwiefern ist dieses Thema wichtig für die Organisation. Sind der Wunsch und der Wille da, sich auf diesen Entwicklungsprozess einzulassen?
Diese Fragen bereiten sozusagen den Boden, damit ein vielschichtiges Thema wie Spiritual Care Fuss fassen kann. Verstehen die EntscheidungsträgerInnen, worum es geht und was es bedeutet, über Spiritualität in der Organisation zu sprechen? Mit Spiritual Care sind auch Fragen verbunden u.a. zu Werten, zu Haltungen und zum Arbeitsklima in der Organisation. Spiritual Care ist nicht nur ein Thema für PatientInnen oder KlientInnen, es macht auch etwas mit den MitarbeiterInnen. Es fordert sie auf der emotionalen Ebene, es fragt nach nicht Offensichtlichem und oft auch nach Konflikthaftem. Das ist für viele im betrieblichen Alltag etwas Neues oder zumindest Ungewohntes. Hier können einige Grundsätze aus der Organisationsentwicklung helfen, um einen solchen Prozess zu gestalten.
Sich einlassen ist das A und O
Sich Einlassen bedeutet auch sich zu fragen, was alles ausgelöst werden könnte – im Guten und im Schwierigen –, wenn eine Organisation beginnt, «sich Richtung Herz» zu bewegen. Welche Gesprächskultur braucht es, damit auch anderen Themen, die im Zuge dessen vielleicht an die Oberfläche kommen, konstruktiv miteinander diskutiert werden können. Eine Dialog-Kultur ist hier etwas ganz Wichtiges, denn Vertrauen und die Möglichkeit kritische Fragen oder sensible Themen anzusprechen, sind zentrale Voraussetzungen für das Gelingen. Hier kann ein systemischer Blick helfen, damit der Fokus nicht auf Einzelpersonen liegt, sondern auf dem Zusammenspiel im Gesamtsystem. Und daraus können viele kreative und für die «Seele» der Organisation wesentliche Punkte identifiziert und betrachtet werden. Oder anders ausgedrückt: die Organisationsentwicklung kann helfen, Steine aus dem Weg zu räumen und damit den Entwicklungsprozess überhaupt erst zu ermöglichen. Ein weiterer Punkt ist, dass das Management sich darüber Gedanken macht, welche Auswirkungen ein ganzheitlicher Prozess auf die Organisation haben kann, sei es auf der Prozessebene, auf der Kommunikationsebene oder auf der Funktionsebene. Wie will die Organisation mit Hinderlichem oder Unangenehmen umgehen? Wie bereitet sie sich darauf vor, ohne genau zu wissen was kommt? Was oder wer kann ihr dabei helfen? Veränderungsprozesse können auch Ängste auslösen. Deshalb ist es wichtig, sich am Anfang genügend Zeit zu nehmen und die Organisation langsam an ein Thema wie Spiritualität heranzuführen. Die Organisationsentwicklung kann das Feld für diese Fragen und die Prozesse vorbereiten.
«Ein systemischer Blick hilft, den Fokus nicht auf Einzelpersonen zu richten, sondern auf das Zusammenspiel im Gesamtsystem».
Was sind die wichtigen Phasen von der Projektidee bis zur Umsetzung von Spiritual Care in der Organisation?
Diese Frage tönt etwas technisch. Im medizinischen Bereich spricht man von Diagnosen. In der Organisationsentwicklung könnte man von einer «Diagnose mit Herz» sprechen. Nebst der Arbeit an der Bewusstwerdung dessen, was auf die Organisation zukommen kann, können auch Fragen im Raum stehen, was so ein Prozess auslösen kann und was man erreichen möchte. Der nächste Schritt ist das Arbeiten am Stärken des Vertrauens. Bei einer guten Diagnostik geht es nicht nur um Fakten, sondern auch um Befindlichkeiten und den Mut, darüber zu sprechen.
Die praktische Umsetzung: sich trauen
Bei der praktischen Umsetzung von Projekten aus dem Lehrgang erlebe ich immer wieder, wie wichtig es ist, am Selbstvertrauen zu arbeiten, dass die InitiantInnen an ihr Projekt glauben und Klarheit darüber gewinnen, was genau ihr Thema und ihr Ziel sind: Warum ist mir das Thema wichtig; wozu ist es gut; warum will ich mich dafür engagieren; wie will ich es in den Organisationskontext bringen; wer müsste im Boot sein, damit das Anliegen eine Chance hat; wer könnte mich konkret dabei unterstützen? Wie soll das Projekt aufgegleist sein, damit bei MitarbeiterInnen keine Überforderung entsteht, welche Schnittstellen sind wichtig; wie sähe ein erster konkreter Schritt aus?
Orientierungsveranstaltungen sind hilfreich als erste Phase in einem Entwicklungsprozess bevor andere, konkrete Projektschritte geplant werden. Erst in einem weiteren Schritt sollten Arbeitsgruppen, Teilprojekte oder Pilotversuche gestartet werden.
Die Kraft der Gemeinschaft
Wichtig ist, dass jeder Schritt immer wieder reflektiert und evaluiert wird. Implementieren tönt etwas technisch, denn eigentlich geht es darum, dass das Thema wachsen und in der Organisation «Wurzeln schlagen kann». Dazu können folgende Fragen hilfreich sein: Was wollen wir machen; welche Veränderungen wünschen wir uns; woran werden wir erkennen, dass Spiritual Care im Alltag gelebt wird; was hat sich durch unsere ersten Massnahmen verändert und gehen diese Veränderung in die richtige Richtung?
Projektteams sollten erst dann weiterarbeiten, wenn sie die ersten Resultate kommuniziert und darüber reflektiert haben. Das schafft Vertrauen, lässt weitere Kreise partizipieren und ermöglicht einen Dialog innerhalb der Beteiligten und mit Personen, die bisher mehr ZuschauerInnen waren. Langsames Vorgehen und wiederkehrende Reflexionsschlaufen sind auch wichtig, um mögliche Widerstände oder Ängste zu erkennen und abzubauen. Das ist ein grosses Thema, den Menschen Mut machen und die Erfolgsgeschichte, wenn sie noch so klein sein mag, immer wieder zu erzählen. Gesehen und gehört zu werden ist auch für das Projektteam bedeutsam. Die Kraft der Gemeinschaft ist dabei nicht zu unterschätzen. Ich empfehle deshalb auch bei Einzelinitiativen nicht den Alleingang, sondern das Arbeiten in kleinen Arbeitsgruppen.
«Es ist wichtig, sich am Anfang genügend Zeit zu nehmen und die Organisation langsam an das Thema Spiritualität heranzuführen»
Im Lehrgang Spiritual Care werden konkrete Umsetzung-Projekte der Lehrgangsteilnehmenden entwickelt und besprochen. Was sind in der Praxis die häufigsten Stolpersteine und wie kann man ihnen begegnen?
Oft scheitern Initiativen am fehlenden Vertrauen oder wenn es die Organisationskultur nicht erlaubt, schwierigen Themen anzusprechen oder Kritik zu üben. Ein anderer Punkt ist die fehlende Verbindlichkeit der Führungspersonen. Mag eine Absicht auch noch so klein sein, es braucht die Zustimmung und die Unterstützung des Managements. Wer von Anfang an wissen will, was dabei herauskommt, ist de facto wenig bereit, sich auf einen echten Entwicklungsprozess einzulassen. Wenig förderlich ist es auch, wenn man bei Spiritual Care problemorientiert Fakten sammelt und dem Emotionalen wenig Raum gibt. Häufig leiden solche Prozesse auch, wenn sich Schlüsselpersonen oder EntscheidungsträgerInnen sich nicht einig sind, nicht verstehen worum es geht bzw. die Sinnhaftigkeit nicht einsehen. Oft scheitert es auch an nicht klar definierten und vereinbarten Zielen, wenn das Vorhaben nicht von allen getragen wird, oder wenn die Menschen verborgene Konflikte haben und nicht bereit sind, diese anzugehen. Dies sind dann die Steine im Weg, über die man dauernd stolpert. Die Zeit, die man in die Klärungs- und Orientierungsphase investiert, holt man später leicht wieder auf.
Entwicklung braucht Zeit
Die Arbeit am Thema Spiritual Care braucht Raum und Zeit. Dies steht oft im Widerspruch oder gar im Konflikt mit dem Tempo, mit dem die Organisation im Alltag unterwegs ist. Dort ist man höher getaktet und will sofort Resultate sehen. Organisationsentwicklung ist jedoch eine Reise, die Zeit braucht um die Dinge entstehen zu lassen. Die Entwicklung geschieht in erster Linie auf der personalen Ebene und verändert parallel auch Menschen und Strukturen in der Organisation. Vorgesetzte, die damit umgehen können und keine Angst vor Veränderung oder Konflikten haben, sind für das Gelingen ein wichtiger Faktor. Nach der Orientierungs- und Klärungsphase ist es wichtig, dass man mit ersten konkreten Schritten beginnt und danach innehält und schaut, was diese bewirkt haben. Was macht es mit uns, den PatientInnen und ihren Angehörigen; wie reagieren MitarbeiterInnen aus anderen Bereichen; wie wirkt es auf unsere Prozesse und was müssen wir für den nächsten Schritt anpassen oder gar anders machen? Wer würde es sonst noch merken, dass sich etwas verändert hat und woran würden sie es merken?
Diese Reflexionsschlaufen sind zentral und sollten sich nicht nur auf den Inhalt, sondern auch auf die prozessuale und kulturelle Ebene beziehen. Hat man das Vorgehen adaptiert und sieht, dass die Anpassungen greifen, kann man sich überlegen, wie der Rollout auf die ganze Organisation aussehen könnte. Am Anfang wie am Schluss steht natürlich eine klare Idee, dazwischen jedoch ist der Weg ganz prozesshaft, wichtige Personen werden schrittweise ins Boot geholt und das Anliegen zu ihrem Eigenen gemacht.
Oft beginnt Spiritual Care in Organisationen mit der Initiative von Einzelpersonen. Was sind Deine persönlichen Empfehlungen aus Deiner Beratungspraxis, um Spiritual Care über das Engagement von Einzelpersonen hinausgehend zu einem Thema der Organisation zu machen?
Sehr oft, und das sehen wir ja auch im Lehrgang, beginnt es tatsächlich mit Einzelinitiativen. Das bringt uns zum ersten Punkt: ich ermutige die InitiantInnen, ihre Idee auszuformulieren, für sich Klarheit zu erlangen, was sie mit ihrer Idee bewirken möchten, um was es ihnen geht, und was erreicht werden soll. Der nächste Schritt ist eine erste Verankerung in der Organisation, indem sie sich zu ihrem Anliegen mit einer Schlüsselperson austauschen, die das Vorhaben mittragen könnte in der Organisation. Im Weiteren geht es darum, daraus einen Auftrag zu formulieren und dafür die Unterstützung der EntscheidungsträgerInnen zu erhalten, um dem Ganzen auch ein Gewicht innerhalb der Organisation zu geben. Der Auftrag kann auch in Form eines Pilotprojektes sein. Das ist ein guter Weg, um gleich zu Beginn die Bedeutung des prozesshaften Arbeitens zu betonen und sich und die anderen nicht zu überfordern mit Ansprüchen und Erwartungen, denen man vielleicht nicht immer gerecht werden kann. So kann man im Verlauf auch rasch reagieren, wenn etwas nicht funktioniert, nicht die erhoffte Wirkung zeigt oder nicht mitgetragen wird.
Rollen- und Auftragsklärung
Worauf InitiantInnen bei der Auftragsklärung besonders achten sollten ist die Rollenklärung: Was ist meine Rolle als Initiantin oder ProjekträgerIn in der Einführung von Spiritual Care und was ist sie nicht; wer ist am Ganzen beteiligt und in welcher Weise?
So kann man die für das Vorhaben wichtigen Personen auch regelmässig informieren. Eine Rollenklärung ist deshalb so wichtig, weil dadurch auch Beteiligte und Betroffene sehen, was meine Rolle ist. Dies kann z.B. eine zusätzliche Aufgabe sein oder eine zusätzliche Rolle innerhalb der bestehenden Funktion. Mit der Rollenklärung erhält man auch die Legitimation, um an diesem Thema arbeiten zu können. All das gibt Initiativen mehr Bedeutung und signalisiert, dass die Implementierung eines neuen Themas nicht einfach en passant geschieht, sondern dass die Initiative den nötigen Raum und die entsprechende Priorität bekommt. Zentral scheint mir auch, dem Prozess genügend Zeit zu geben. Es kann in einem solchen Vorhaben Meilensteine geben, aber wenn der Prozess einen Umweg geht, sollte man diesen Umweg gehen und sich nicht an der Projektagenda festklammern. Damit werden oft wesentliche Diskussionen ermöglicht, die notwendig sind, um ein Thema nachhaltig zu verankern. Neue Themen brauchen meiner Erfahrung nach Zeit, um sich zu entfalten.
Franziska Hildebrand Alberti ist Organisationsberaterin, Partnerin von P&O Personal- und Organisationsentwicklung, Dozentin im Lehrgang Spiritual Care im Lassalle Haus.
Das Gespräch führte Dorothee Bürgi, PhD
Lehrgang Spiritual Care
Medizin und Spiritualität in Gesundheitsberufen
Oktober 2019 - September 2020
Der spirituelle Aspekt des menschlichen Lebens kann als integrierende Komponente verstanden werden, welche die physische, die psychische und die soziale Dimension verbindet und zusammenhält. Spiritual Care will die unterschiedlichen Lebenseinstellungen und Weltanschauungen beachten und spirituelle Bedürfnisse angemessen einbeziehen in die Pflege und Begleitung von Menschen in Krankheit, Trauer und Sterben. Der Lehrgang Spiritual Care richtet sich an alle professionell in den verschiedenen Bereichen des Gesundheitswesens Tätigen (Pflege, Medizin, Psychotherapie, Soziale Arbeit, Seelsorge u.a.), welche die spirituellen Dimensionen in den Praxis-Alltag integrieren möchten.
Infoveranstaltung: aki Zürich, 21.8.2019, 19 Uhr