16.06.2021 09:14
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Miteinander zu einem Mehr gelangen

Interview von Maria Hässig, Schweizerische Kirchenzeitung

Was macht ein Gespräch im Pfarreiteam zu einem geistlichen Gespräch? Wie findet ein Gremium zu einer einmütigen Entscheidung? Darüber sprach die SKZ mit Pfarrerin Noa Zenger und P. Bruno Brantschen SJ vom Lassalle-Haus in Edlibach ZG.

Papst Franziskus fördert synodale Prozesse in der katholischen Kirche. Der «Weg der Synodalität ist das, was Gott sich von der Kirche im dritten Jahrtausend erwartet.»1 Dabei geht es ihm wesentlich um das gemeinsame Hören auf den Heiligen Geist. Der Weg der Synodalität ist ein geistliches Geschehen. Im gemeinsamen Hören auf den Heiligen Geist kann die Kirche auf dem Weg der Unterscheidung der Geister zu einmütigen und tragfähigen Entscheidungen kommen. Das synodale Element soll auf allen Ebenen in der römisch-katholischen Kirche gestärkt werden und die hierarchische Struktur ergänzen. Die ignatianische Spiritualität und Tradition bietet hierzu einen grossen Schatz.

SKZ: In den Vorbereitungen zu dieser Ausgabe führte ich verschiedene Gespräche. Mein Eindruck aus diesen Gesprächen ist, dass wenige in der Kirche Erfahrungen haben mit gemeinsamer geistlicher Entscheidungsfindung. Gleichzeitig spüre ich eine grosse Sehnsucht danach. Frau Zenger, Sie waren als Pfarrerin in Kirchgemeinden tätig. Welche Erfahrungen machten Sie mit gemeinsamer geistlicher Entscheidungsfindung in Teams oder Gremien?

Noa Zenger (NZ): Keine, ich habe das nie erlebt ... Wenn ich näher hinblicke, habe ich doch solche Erfahrungen gemacht. Kirchgemeindeversammlungen empfand ich oft chaotisch. Wenn ich diese Erfahrung mit dem individuellen Entscheidungsfindungsprozess vergleiche, entdecke ich einen geistlichen Prozess. Das Chaotische markiert den Wegabschnitt der Suche, des Tastens. Die nächsten Schritte sind noch nicht klar. Erst im Rückblick ist es möglich zu sehen, was in dieser Phase des Suchens und Ringens passiert ist. Erst im Nachhinein erkenne ich die Spur Gottes im persönlichen Leben und im Leben der Kirchgemeinde. Erst in dem, was entsteht, sind Früchte des Geistes erkennbar. Das löst bei mir Staunen und Dankbarkeit aus. Dankbarkeit, dass Gott mit dabei war in der chaotischen Versammlung.

Bruno Brantschen (BB): Ihre Erfahrungen, die Sie vorher angesprochen haben, macht auf eine grosse Not in der Kirche aufmerksam. Aus diesem Grund ist es wichtig, dieses Thema in die Kirche zu bringen. Die ignatianische Tradition gemeinsamer geistlicher Entscheidungsfindung gründet in einem historischen Ereignis. Darf ich Ihnen dieses erzählen?

Ja, gerne!

BB: Die ignatianische Tradition gemeinsamer geistlicher Entscheidungsfindung gründet in den sogenannten «Beratungen der ersten Väter» im Jahr 1539. Ignatius von Loyola und seine Gefährten berieten über Fragen der Ordensgründung. Wie sie damals die anstehenden grossen Fragen angegangen sind, steht modellhaft für viele später entstandene Weisen der gemeinschaftlichen Entscheidungsfindung. Sie haben über drei Monate regelmässig miteinander über die Fragen gesprochen, haben einander zugehört, hingehört auf die inneren Bewegungen, welche diese Fragen und die Überlegungen dazu auslösten. Zwischen den Gesprächen gab es Zeit, über das Gehörte zu meditieren. Die Gespräche und das Gebet führten sie zu einem einmütigen Entscheid. Im Noviziat haben wir dieses Modell eingeübt. Diese Beratungsgespräche pflegen und leben wir Jesuiten, stets in der Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit. Persönliche Interessen, Probleme im Zwischenmenschlichen usw. spielen immer mit. Wir sind bemüht, es umzusetzen, gemeinsam nach dem Mehr – magis – zu streben.

NZ: Ignatius und seine Gefährten haben diese Gespräche über drei Monate gepflegt. Da sehe ich heute das grosse Problem bzw. die Herausforderung: sich diese Zeit und diesen Raum zu nehmen, um hinzuhören. Es bedarf einer inneren Ruhe. Diese ist sehr wichtig, um die eigenen inneren Bewegungen und Regungen und die der anderen und auch die existenziellen Fragen wahrzunehmen. Die Kirche und die Gesellschaft stehen in einer sehr grossen geistlichen Krise. Peter Hundertmark, ein Spezialist in diesen Fragen, stellte fest, dass wir heute keine Zeit fürs Notwendige haben, geschweige denn für das Sinnvolle.

Sie sprechen mit der Zeit und dem Raum Voraussetzungen für einen geistlichen Prozess an. Was braucht es noch?

BB: Bevor ein Pfarreiteam oder ein Gremium in einen gemeinsamen geistlichen Prozess ein - steigt, muss klar sein, was geistlich meint. Was ist ein geistliches Gespräch? Ich habe Ihnen eine Grafik des Jesuiten Franz Meures mitgebracht. Ein geistlicher Weg umfasst drei Pole der Aufmerksamkeit. Die Aufmerksamkeit für die äusseren Ereignisse fragt nach dem, was mir oder uns von aussen an Impulsen, Fragestellungen und Herausforderungen begegnet. Die Aufmerksamkeit auf die inneren Ereignisse fragt nach dem, was mich, die einzelnen Gruppenmitglieder und uns in der Gruppe innerlich bewegt. Und in der Aufmerksamkeit auf die Offenbarung Gottes setze ich mich oder setzen wir uns dem Wort Gottes aus. In Gruppen ist es sehr wichtig, dass jedes Mitglied seine inneren Eindrücke und Regungen ins Gespräch bringen kann und dass alle genau hinhören, was die anderen sagen. Auch gilt es, ein gemeinsames Bild der zu behandelnden Frage oder des anstehenden Problems zu erarbeiten. Das braucht Zeit. Und beides ist ins Gespräch mit dem Wort Gottes zu bringen.

NZ: Diese dreipolige Aufmerksamkeit finde ich eminent wichtig, insbesondere die Ausrichtung auf Gott. Ich vergleiche es mit Exerzitien. Da richte ich mich auch zuerst auf Gott aus und erst nachher ordne ich mein Leben bzw. das Leben wird von Gott her geordnet. In der Pfarrei ist zuerst die Mission, die Sendung zu klären. Alles Organisatorische folgt später. Es bekommt von dieser Ausrichtung seine Ordnung.

BB: Es braucht eine gemeinsame Überzeugung, dass Gott in und durch die Geschichte wirkt und jetzt auch in dieser Versammlung. Klar muss weiter sein, welches der Entscheidungs- und Handlungsspielraum der Gesprächsgruppe ist. Viel Frust an der Basis in der Kirche rührt daher, dass der Entscheidungsspielraum nicht oder zu wenig geklärt wurde. Zu was sind wir als Gruppe beauftragt und zu was nicht? Klar muss auch sein, welchen Entscheidungs- und Handlungsspielraum die Leiterin oder der Leiter dieser Gesprächsgruppe hat. Und wie Noa Zenger schon erwähnte, ein solcher Prozess gemeinsamer geistlicher Entscheidungsfindung braucht Zeit, viel Zeit. Hier brauchen wir dringend eine Umkehr. Wir hecheln von Termin zu Termin, versuchen, möglichst schnell die Aufgaben abzuarbeiten. Es gilt aus diesem Hamsterrad aus- und einen Schritt zurückzutreten, um zur inneren Ruhe zu kommen. Dieser bedarf es, um zu einer ausgewogenen Gesamtdarstellung der Frage bzw. des Problems zu kommen. Was ist Sache? Worum geht es uns? Wenn die Fragestellung klar erkannt ist, dann hat man schon die halbe Miete. Wichtig sind auch die zeitlichen Abstände zwischen den Gesprächssequenzen. In diesen können die Gespräche nachreifen, das Besprochene kann reflektiert und den ausgelösten Empfindungen nachgegangen werden. Eine Minimalvoraussetzung ist die Überzeugung und das Vertrauen, dass wir vom Heiligen Geist begleitet sind und Gottes Geist in uns und durch uns wirkt.

NZ: Die gemeinsame geistliche Entscheidungsfindung bedarf als Voraussetzung eines geistlichen Lebens. Das ist oft nicht gegeben. Die Pflege des persönlichen Gebets ist existenziell. Ich mache eine geistliche Schieflage in der Kirche aus. In den Pfarreien und Kirchgemeinden herrschen viel Aktivismus und Aktionismus. Ich verstehe es. Man möchte für die Menschen attraktiv sein. Viele der kirchlichen Mitarbeitenden, die zu uns ins Lassalle-Haus kommen, gehen geistlich auf dem Zahnfleisch.

Welche Grundhaltungen sind in einem solchen geistlichen Prozess wesentlich?

BB: Ich knüpfe gleich beim Gesagten von Noa Zenger an. Die Kirche ist eine geistliche Grösse. Und sie ist auf dem Weg zu einem erfüllten Leben in Gott. Gemeinsam unterwegs zu Gott zu sein, setzt ein geistliches Leben voraus. Es gilt weiter für Bedingungen zu sorgen, damit wir in ein gemeinsames geistliches Gespräch kommen. Dazu gehören wesentlich Zeit und Raum. Eine weitere Grundhaltung ist das aufmerksame Hinhören auf die inneren Regungen, auf die Worte der anderen und auf Gottes Wort. Ich bin in einer Haltung des Empfangens. Die Grundhaltungen sind anspruchsvoll. Sie lassen sich dadurch erreichen, wenn wir uns zugestehen, dass wir nicht alles auf Anhieb können. Wir dürfen Haltungen einüben. Ja, das Üben ist eine ganz wichtige Grundhaltung.

NZ: Eine weitere, sehr wichtige Grundhaltung ist die Indifferenz. Sie bedeutet die innere Freiheit von unmittelbaren Gefühlen. Jede und jeder ist eingeladen, sich seiner Motive, Vorurteile, Interessen und Fixierungen bewusst zu werden. Wie fest bin ich an sie gebunden? Heute reagieren viele im Affekt: Gefällt mir oder gefällt mir nicht. Die tieferliegenden Motive bleiben unbemerkt und ungenannt. Um diesen nachzugehen und sie prüfen zu können, ist es notwendig, zwischen den Gesprächsrunden Zeit fürs Gebet und die Besinnung einzubauen. Die innere Freiheit kennt noch eine weitere Dimension. Sie beinhaltet auch, sich von Gott führen zu lassen auf einen noch unbekannten Weg. Beides bedarf der Übung. Ich bin mir bewusst, dass dies ein hohes Ideal ist. Es bedarf einer Reflexionsgabe und grosser menschlicher Reife, diese inneren Regungen, tiefgründigen Motive und Abhängigkeiten wahrzunehmen. Als ein gutes Übungsinstrument hierfür erachte ich das Hören.

Beim Hören auf die Stimmen scheint mir die Unterscheidung der Geister wichtig.

BB: Die Unterscheidung der Geister ist auch eine Übung. Die ignatianische Tradition kennt drei Schritte: wahrnehmen – verstehen und erkennen – beurteilen. Heute werden die ersten beiden Schritte oft übersprungen. Man geht gleich zum dritten Schritt: Ich urteile sofort.

NZ: Diese drei Schritte können in Gruppen geübt, gefördert und gepflegt werden. Was nehme ich in mir wahr auf die Voten der einzelnen Gruppenmitglieder? Sind es angenehme oder schwierige Gefühle? Diese wahrzunehmen, zu benennen und ausdrücken, will geübt sein. Die entscheidende Frage lautet: Was dient dem Mehr? Mehr an Frieden, Glauben, Leben in der Welt? Was macht uns innerlich froher? Ignatius spricht von grösserer Frucht und grösserem Trost.

Papst Franziskus spricht davon, dass die Kirche auf dem Weg der Unterscheidung zu einmütigen Entscheidungen kommt.

NZ: Ich finde, Harmonie und Einmütigkeit sollten nicht zu früh angesteuert werden. Es braucht eine Disputationskultur. Wir haben diese verlernt. Gemeinsam auf dem Weg geistlicher Entscheidungsfindung heisst miteinander im Streitgespräch sein. Einmütigkeit entsteht durch den Geist Gottes. Sie ist eine Gnade. Einmütigkeit soll die Komplexität der Situationen und die Verschiedenheit der Menschen wahren.

Und wenn sich keine Einmütigkeit einstellt?

BB: Man kann etwas auch «ad experimentum» entscheiden. Die Gruppe vereinbart, eine Entscheidung für eine gewisse Zeit umzusetzen und danach auszuwerten. Oder man gesteht sich ein, dass eine Entscheidung noch nicht reif ist. Auch da ist der Weg nach vorne offen. Manchmal muss eine Entscheidung mit einer Abstimmung herbeigeführt werden.

Wo machen Sie mögliche Stolpersteine aus?

BB: Maximalisten und Idealisten drohen Prozesse zum Scheitern zu bringen. Die zentrale Frage ist und bleibt: Was ist das Möglichere, das Fruchtbringendere?

NZ: Auch Pessimisten und Zyniker bringen ein Gespräch zum Erliegen. Es gilt zu lernen, mit Fragmenten zu leben. Im Fragment kommt Gott zum Ausdruck.

Nach dem sexuellen Missbrauch ist auch der geistige und geistliche Missbrauch in den Fokus gerückt. Inwieweit besteht eine solche Gefahr bei gemeinsamer Entscheidungsfindung?

BB: Die Gefahr für geistlichen Missbrauch besteht für mich da, wo die Entscheidungs- und Handlungsspielräume der Beratenden nicht klar deklariert werden, wo Hoffnungen zur Mitbestimmung und Partizipation geweckt und diese dann nicht eingelöst werden. Die Gläubigen machen sich begeistert auf den Weg und werden an die Wand gefahren. Das ist Missbrauch. Das erzeugt Frust, Wut, Enttäuschung, Verletzung. Die Leitenden in der Kirche sollen den Gläubigen so viel Handlungs- und Entscheidungsspielräume geben wie möglich. Im Englischen gibt es einen schönen Ausdruck für die Haltung, die in solchen Prozessen nottut: «servant leadership». Das ist die Haltung, die Gesinnung Jesu.

Was erachten Sie persönlich als besonders zentral in einer gemeinsamen geistlichen Entscheidungsfindung?

NZ: Ganz klar die Verankerung im Gebet. Es ist eine Haltung des Empfangens. Im Gebet übe ich mich in eine kontemplative Grundhaltung ein.

BB: Mir liegt ein Satz aus dem Exerzitienbuch des Ignatius besonders am Herzen: «Dass jeder gute Christ bereitwilliger sein muss, die Aussage des Nächsten zu retten, als sie zu verurteilen» (EB 22). Der Heilige Geist ist in meinem Gegenüber wirksam. Bin ich bereit, dies ernstzunehmen? ... Darf ich Sie etwas fragen?

Ja, natürlich!

BB: Was nehmen Sie mit aus diesem Gespräch?

Gemeinsame geistliche Gespräche bedürfen vieler Übung und sie sind ein Geschenk. Sie sind letztlich Gnade Gottes.

Pfarrerin Noa Zenger ist Leiterin der Angebote «Kontemplation und Fasten» und «Geistliche Begleitung» im Lassalle-Haus Bad Schönbrunn in Edlibach ZG
P. Bruno Brantschen SJ ist Leiter des Bereichs «Exerzitien und geistliche Begleitung» im Lassalle-Haus Bad Schönbrunn in Edlibach ZG.

 

Interview von Maria Hässig, erschienen in der Schweizerischen Kirchenzeitung 10/2021, kirchenzeitung.ch

 

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