Exerzitien in der heiligen Stadt
Streifzug durch ein menschenleeres Jerusalem
Ein Erfahrungsbericht von Elisabeth Maier
Im letzten Jahr fragten mich viele erstaunt, warum ich meinen gutbezahlten Job aufgebe, meine Wohnung räume und Deutschland in Richtung des Westjordanlands verlasse. Dort wollte ich für ein Jahr in einem Pflegeheim arbeiten. „Es reizt mich, mich einmal in die Wüste zu stellen und zu sehen ob daraus wirklich die so oft versprochene Fülle wachsen kann.“ In einer absolut fremden, muslimisch geprägten Kultur, mit fremder Sprache zu leben und sich Kost und Logis durch eine Arbeit zu verdienen, die man nie gelernt hat. Eben mal nichts von vornherein verstehen, nichts können. Hoffen, dass aus diesem Nichts irgendwann ein neuer Weg wächst. Nach drei Monaten meines Aufenthalts erfuhr ich, dass meine persönliche Wüste nicht das karge Hügelland von Judäa und auch nicht die Negev sein sollte, sondern Mitten in Ost-Jerusalem auf mich wartete.
„Unsere Stunde ist die Stunde der Wüste …“
Israel vermeldete die ersten Corona-Infizierten, Einreise-Bestimmungen wurden verschärft, und Bethlehem schon zwei Tage abgeriegelt. Ich war trotzdem sehr unbekümmert und befand mich auf dem Rückweg von einem Sonntagsausflug vom Meer. Die Leitung des Pflegeheims rief mich unerwartet an und teilte mir mit, dass ich nicht mehr zurückkommen könnte. In dem kleinen palästinensischen Dorf ist die Angst vor einer Infizierung von aussen zu gross. Ich sollte keinesfalls zurückkehren, sondern abwarten bis alles vorbei war.
Alle anderen Europäer, die mit mir die Zeit in Palästina verbrachten, verliessen am folgenden Tag das Land. Absolute Unsicherheit über die sich rasant entwickelnde Lage verbreitete sich. Gehen oder Bleiben? Wie lange wird der Flughafen noch offen sein? Gerüchte, Nachrichten, Über- und Untertreibungen machten die Runde. Für mich war nur eines klar – ich bin hier noch nicht durch. Ich wusste nicht wohin mein nächster Weg führte. Es war einfach zu früh – abzubrechen. Ich organisierte mir eine Unterkunft in einer deutschen Pilgerherberge und blieb trotzdem unruhig. Ich fühlte mich unsicher, rastlos auf mich selbst zurückgeworfen. Dabei wusste ich eben nicht einmal wer, wie, was es war, dieses Selbst.
„Die Wüsten müssen bestanden werden, … die Wüsten der Einsamkeit, der Weglosigkeit, der Schwermut, der Sinnlosigkeit, der Preisgegebenheit.“
Ich sehnte mich nach Exerzitien, oder ähnlichen „Tagen der Stille“, um die Verwirrung zu lösen. In der Verzweiflung fragte ich verschiedene Bildungshäuser in Israel an, ob sie spontan ein solches Angebot für mich schnitzen könnten. Natürlich ohne Erfolg. Ich brauchte aber Struktur. Ich muss diese Zeit nutzen. Ich kann hier nicht nur rumsitzen und warten.
Langsam dämmerte mir die Erkenntnis, dass ich eigentlich genau das bekommen habe, was ich mir von Anfang an gewünscht hatte. Ich wollte mich in die Wüste stellen und hier hatte ich sie unerwartet geschenkt bekommen. Also warum der ganze Schmerz.
Ab dem Zeitpunkt lebte ich in eine für mich zugeschnittene exerzitienartige Tagestruktur hinein. Wie von selbst ergab es sich, dass ich nicht mehr nur Gast war, sondern in die noch verbliebene Hausgemeinschaft des leeren Pilgerhauses aufgenommen wurde. Wie von selbst ergab es sich, dass ich einige Stunden im Haushalt mithelfen konnte. Das Reinigen des Aussen reinigt auch das Innen. Wie von selbst ergab es sich, dass ich plötzlich eine Bibel auf meinen Streifzügen durch die immer leerer werdende Altstadt dabei hatte. Ein spontaner Einfall lies mich sie einpacken. Wie von selbst ergab es sich, dass ich mit den gelangweilten Händlern in der Stadt nicht mehr nur über Corona und das Wetter sprach, sondern über Gott und die Tiefe im Leben. Kreative, geistliche Begleitung fand mich also auch. Alles ohne Zwang – wie von selbst.
„Aber diese Wüste ist Bewährung zur grossen Freiheit, nicht endgültiges Schicksal.“
Das Aussen in dieser sonst so wuseligen Stadt wurde immer ruhiger. Keine Gesänge mehr in der St.-Anna-Kirche, ungestörtes Verweilen in den Ruinen von Bethesda, kein Gedränge in den Gassen der Altstadt, keine duzend Busse vor dem Garten Gethsemane. Plötzlich Platz zum Gebet an der Klagemauer. Plötzlich eine grössere Verbundenheit in der Stadt. Es gab keine Pilger und Einheimischen mehr. Es gab nur noch die, die jetzt noch da sind und gemeinsam ausharren. Irgendwann versiegte dann auch die meterlange Schlange vor der Grabkammer in der Grabeskirche.
Diese hatte ich bisher immer gemieden. Zu voll, zu laut, zu umfochten, zu pompös. Aber schon beim Eintreten stellte ich fest, wie anders es jetzt war. Der Salbungsstein lag frei am Eingang, ohne küssende Pilger, ohne ausgebreiteten Devotionalien. Ganz simpel schimmernd empfing er jetzt die wenigen Besucher. Kein unterschwelliges Gemurmel von Pilgergruppen unter der Hauptkuppel. Ein historischer Moment. Dort wo man eigentlich 2-3 Stunden für 10 Sekunden Anbetung wartet, war nun der Weg ins Innerste einfach frei. Egal wie sehr man an die Macht von Pilgerstätten glaubt oder nicht, der magische Sog in dieser seit Jahrhunderten verehrten, engen Grabkammer fesselt einen dann doch.
Die Gebetszeiten meiner selbstgeschneiderten Exerzitien verbrachte ich ab da nur noch in der Kreuzaufindungskapelle, dem tiefsten und zu dem Zeitpunkt menschenleeren Punkt der Grabeskirche. Oben hörte man manchmal die tiefen Gesänge der armenischen Mönche oder die Orgel der Franziskaner. Aber hier tief unten spürte ich auf einmal den schönen Glanz des Nichts. Die nächsten Schritte des Weges taten sich auf und die so oft verheissene Freude und Fülle entstand.
„Im Menschen selbst, in seiner innersten Mitte geschieht das Leben Gottes. Genau da wird der Mensch er selbst, wo er sich als Ort des höchsten und lichtesten Seins weiss “
Mir half bei diesem Wissen um den Ort des höchsten Seins ein von Pilgerströmen entleertes Jerusalem. Ich bin aber überzeugt: Ähnliches kann an jedem Ort, in jeder Stadt, in jeder Wohnung geschehen. Karge Zeiten sind wohl eben nicht endgültiges Schicksal. Hier gehts anscheinend mehr um das wahrhaftige Annehmen und Durchschreiten der Wüste - hin zur Freiheit und zur Fülle.
Elisabeth Maier
Elisabeth Maier lebte als Langzeitgast für 6 Monate im Lassalle-Haus
Zitate von Alfred Delp SJ (1907 – 1944); (A. Delp, Gesammelte Schriften, Roman Bleistein (Hrsg.))