Exerzitien – Exorzismus, Exerzieren?!
Alena W. ist Master-Studentin im Fach Medien-Ethik-Religion an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Sie verbrachte ein paar Wochen im Lassalle-Haus als Langzeit-Gast. Dort stiess sie auf Exerzitien. Allein dieser nicht gerade alltägliche Ausdruck machte sie hellhörig. Sie fragte nach.
Als ich zum ersten Mal von Exerzitien hörte, stolperte ich zunächst. Was ist das? Hat das etwas mit Exorzismus zu tun, eine dunkle Praxis, die mit den Ängsten der Menschen spielt? Ich suchte weiter, landete beim Exerzieren. Aber das kommt vom Militär: „Achtung! Still gestanden! Gewehre bei Fuss!...“ Das kann es doch auch nicht sein. Also habe ich nachgefragt.
„Exerzitien haben nichts mit all dem zu tun“, sagt mir einige Tage später Jesuit Bruno Brantschen. „Keine verschlagenen Pfaffen, keine obskuren Rituale, keine Beschwörung von Teufeln und kreischenden Dämonen. Zumal: Das landläufige Bild von Exorzismus hat auch nichts gemeinsam mit dessen tatsächlicher biblischen Bedeutung. – Und kein gleichmacherischer Drill.“
Bruno Brantschen muss es wissen: Der Jesuit lebt und arbeitet im Lassalle-Haus Bad Schönbrunn und ist für die Bereiche Exerzitien, Geistliche Begleitung und Langzeit-Gäste zuständig. Er erklärt weiter: „Exerzitien haben viel mit Heilung und Befreiung zu tun, mit einem lebendigen Menschsein, mit Wachstum und Orientierung.“
Hilfe, mein Kopf ist wirr! Ich weiss nicht wohin!
Bei den Schlagworten Befreiung, Wachstum und Orientierung ist meine Neugier endgültig geweckt. Ich möchte es genau wissen. Bruno Brantschen gibt geduldig Auskunft: „In den Exerzitien geht es darum, im Leben und im eigenen Kopf Ordnung zu schaffen: im Innersten Klarheit erlangen, wenn die vielen inneren und äusseren Stimmen an einem reissen. Doch wie bei vielen Dingen im Leben – es braucht Übung, damit jemand nicht nur Kenner, sondern auch Könner wird. „Exercere“ ist ja das lateinische Wort für „üben“. Durch beständiges Üben öffnet man sich für das Innerste, für die Mitte, von der her alles Sinn zu machen beginnt.“
Im Wirrwarr der vielen Stimmen, Fragen und Zweifel lerne man durch Exerzitien, auf die innere, echte Stimme zu hören und ihr zu vertrauen statt trügerischen Stimmen zu folgen. „Was ist stimmig für mein Leben? Was nicht? Um das herauszufinden muss man genau hinhören und das braucht eben Übung“, sagt Bruno Brantschen. „Man könnte sagen: Exerzitien sind eine Hörschule. Genauer gesagt, eine spirituelle oder geistliche Hörschule. Es sind „Geistliche Übungen“: Die innere Stimme ist eng verbunden mit dem Geheimnis, das viele Menschen Gott nennen. Was will Gott mir sagen? Exerzitien helfen Menschen, auch schwierige Entscheidungen zu treffen.“
Was soll denn ein mittelalterlicher Ritter heute schon sagen?
Der Gründer des Jesuitenordens (Verlinkung mit www.jesuiten.ch) Ignatius von Loyola (1491 – 1556) erträumte sich als junger Mann ein Leben als Ritter und Edelmann. Doch zerschmetterte eine Kanonenkugel nicht nur sein rechtes Bein, sondern auch seine Karrierephantasien. Er fiel in tiefe Zweifel, was er mit seinem Leben tun sollte. Eine Erfahrung, die heute viele, vor allem junge Menschen teilen. Denn: Unendlich scheinen die Möglichkeiten zu sein, das Leben zu gestalten. Wählen fällt schwer. Sie stecken fest, geraten in die Krise. Noch ans Krankenbett gefesselt, las Ignatius – mangels unterhaltsamerer Lektüre – Geschichten über das Leben Jesu. Er meditierte sie, entwickelte Gefallen, dann Achtung. Die Freundschaft zu Jesus vertiefte sich. Dabei entdeckte er, dass sich der Wirrwarr in seinem Kopf und in seinem Leben allmählich sortierte. Ignatius bekam ein immer klareres Gespür, was in die Freundschaft mit Jesus passte und was nicht. Er entschied sich, Jesus zu dienen, seiner Stimme den „Lead“ zu geben. So lernte er, was Gott ihm zugedacht hatte, mit anderen Worten: was der Wille Gottes für sein Leben ist. – Ignatius sah fortan seine Berufung darin, anderen seine Erfahrungen weiterzugeben. Dazu schrieb er die „Geistlichen Übungen“, das Exerzitienbuch als Anleitung für Suchende.
Ohje, Gottes Willen suchen… und dann auch noch finden?!
Gottes Wille tönt fast wie „ein Schicksal trifft mich“. – Wie soll das eigentlich gehen: auf Gottes Willen hören? Auch hier gibt der erfahrene Exerzitienbegleiter Bruno Brantschen einen Hinweis. Er braucht dazu ein Bild aus der Musikwelt: „Vergleichen wir die Bühne des Lebens mit einem Konzert. Jeder Mensch, jedes Geschöpf soll seinen Part übernehmen. Damit eine Symphonie entsteht, werden die verschiedenen Instrumente aufeinander abgestimmt. Dies geschieht, indem sie den Kammerton von der ersten Geige übernehmen. Misstöne sollen vermieden werden. Übertragen auf die Exerzitien: Die Symphonie ist der Traum Gottes, dass in seiner Welt, auf unserem Planeten erfülltes Leben gelingt. Der Kammerton ist die „Stimme“ Gottes, die jeden Menschen an den Platz ruft, wo sie oder er seine einmalige Melodie spielen kann. Die „Stimme“ Gottes spricht uns überall an: in der Natur, in der Bibel, durch das eigene Leben. In besonderer Weise lässt Gott sich – so hat es auch Ignatius erfahren – durch das Leben Jesu vernehmen. In Exerzitien werden „die Saiten des Herzens“ durch Meditation und Betrachtung vor allem an seinem „Kammerton“ gestimmt. Die Freundschaft zu ihm vertieft sich. Ausgerichtet auf ihn, achte ich auf die Resonanz, das Echo, welches innere oder äussere Ereignisse und Stimmen in meinem Herzen erzeugen. Führt etwas tiefer in die Freundschaft mit Jesus und fügt es sich „stimmig“ in diese Beziehung ein, oder ist das Gegenteil der Fall? Nehmen wir z.B. eine Entscheidung: Ist sie stimmig, dann ist ihr Nachklang innere Freiheit, tiefe, echte Freude, nachhaltiger Friede. Sie macht dein Leben vertrauens-, hoffnungs- und liebevoller. Oder aber - erzeugt sie lauter Misstöne? Entmutigt und überfordert, verwirrt und zerreisst sie dich zunehmend? Lässt sie dich vor allem um dich selbst, deine eigenen Bedürfnisse und Befürchtungen kreisen?
So übt eine Person in Exerzitien ein, was sich im Alltag vertiefen will. In allem kann sie sich fragen: Treffe ich mit meinem Leben den „Ton“? Entspreche ich dem Traum Gottes, dass ich die werde, die ich eigentlich bin? – In dieser Weise lässt sich Gott in allem finden.“
Aber, alles ist leichter gesagt als getan…
Exerzitien wollen den ganzen Menschen ansprechen. So gibt es verschiedene Formen: Zum Schnuppern gibt es zweitägige Exerzitien-Einführungen. Weit verbreitet sind einwöchige Einzelexerzitien mit täglichen theologischen, biblischen und methodischen Impulsen. Daneben gibt es auch Exerzitien mit speziellen Elementen wie Filmen, Wandern, Bibliodrama und Singen.
Der Ablauf eines Exerzitientages zeigt, was für Exerzitien wirklich wichtig ist: Die Stille – sie macht das aufmerksame Hören auf „Harmonien und Dissonanzen“ erst möglich. Das Handy bleibt ausgeschaltet. Ablenkungen werden gemieden. Man nimmt sich viel Zeit für sich und Gott. Drei- bis viermal beten Übende rund eine Stunde mit biblischen, manchmal auch mit literarischen Texten. Man trifft sich zu Morgengebet, Gottesdienst, Mahlzeiten und zum Tagesrückblick. Ausserdem gibt es Gespräche mit einer Begleiterin oder einem Begleiter: Die Übenden erzählen von den gemachten Erfahrungen und gemeinsam wird angeschaut, was im Inneren bewegt und wie es weitergeht.
Macht Sinn.
Mich hat das Gespräch mit Bruno Brantschen sehr berührt. Ich sehe ein ungemeines Potenzial in der Praxis der Exerzitien. Gerade, weil ich die Unsicherheit und das Zerrissensein zwischen Ratschlägen, Ängsten, Wünschen und eigentlich belanglosen Fantasierereien kenne. So zeigte mir Bruno mit den ignatianischen Exerzitien einen verheissungsvollen Weg. Mir gefällt, dass der Mensch in seinem vollen Sein, mit seinen Gedanken, Gefühlen und seinem Handeln ernstgenommen wird. Es gibt mir Kraft, wenn ich darauf vertraue, dass Gott im Leben wirkt und mich weist. Es gibt Hoffnung und Zuversicht. Stille bewegt – durch die Kraft des Hörens, des Meditierens und des Betens. Hier und jetzt und am liebsten gleich sofort. Aber das ist eben nicht der Weg – ich habe erst die erste Wegmarke passiert und freue mich auf die weiteren Schritte.
Alena W.