03.01.2019 14:53
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Interview mit Prof. Dr. Mouhanad Khorchide

«Wir benötigen einen reflektierten Zugang zum Islam»

Mouhanad Khorchide wurde 1971 als Sohn palästinensischer Flüchtlinge im Libanon geboren und kam mit 18 Jahren nach Österreich, wo er Soziologie, Islamwissenschaft und Religionspädagogik studierte und sich einbürgern liess. Aktuell ist er Professor für islamische Religionspädagogik am Centrum für Religiöse Studien (CRS) und Leiter des Zentrums für Islamische Theologie (ZIT) an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster.

Khorchide stellte in seinem 2012 erschienenen Buch «Islam ist Barmherzigkeit: Grundzüge einer modernen Religion» seine Vision von einem modernen, aufgeklärten Islam vor: Eine humanistische Religion, die vor allem von Gottesbarmherzigkeit, Gottesliebe und Freiheit geprägt sei. Khorchide liest den Koran als ein Buch aus dem siebten Jahrhundert, dessen einzelne Gebote nicht mehr wörtlich ins heutige Leben übertragen werden können. Er tritt für eine historisch-kritische Koranexegese ein. Trotzdem würden seiner Ansicht nach bei solch einer Auslegung die Kernbotschaften des Propheten Mohammed erhalten bleiben. 2015 erschien sein Buch «Gott glaubt an den Menschen: Mit dem Islam zu einem neuen Humanismus» und 2018 erschien der erste Band eines historisch theologischen Korankommentars mit dem Titel «Gottes Offenbarung in Menschenwort».

 

«Islam ist Barmherzigkeit» lautet der Titel eines Ihrer Bücher. Das hört sich sehr christlich an. Was zeichnet die islamische Barmherzigkeit aus?

«Gott, der Barmherzige» ist der Name Gottes, der im Koran am häufigsten vorkommt. So beginnen 113 der 114 Suren im Koran mit «Im Namen Gottes, des Barmherzigen, des Allerbarmers.» Dies ist somit nicht nur ein christlicher Wert, sondern auch zentral im Islam. Das Wort für Barmherzigkeit im Arabischen, «Rahma», leitet sich aus dem Hebräischen «Rahim» ab, was so viel bedeutet wie Mutterschoss. Barmherzigkeit ist verbunden mit bedingungsloser Liebe und Zuwendung. Ich spreche jeweils von einer liebenden Barmherzigkeit und nicht lediglich von Vergebung der Sünden oder Mitleid Gottes gegenüber den Menschen.

Der Islam ist die jüngste der abrahamitischen Religionen. Wie würden Sie die Trilogie von Judentum, Christentum und Islam einordnen?

Ich würde die drei Religionen als Kontinuität sehen – nicht so, dass die eine die andere ersetzt. Also nicht ein «entweder-oder», sondern es geht um den gleichen Gott, der sich unterschiedlich offenbart hat im Judentum, im Christentum und im Islam. Ich sehe hier eine gewisse Pluralität, weil ich Gott zutraue, dass er sich nicht nur auf eine bestimmte Art offenbart hat. Aber nicht alle Muslime würden wohl diese Meinung teilen.

Was würden sie als spezifischen Kern des Islams bezeichnen?

Es gibt im Koran in der Sure 21 Vers 107 eine Antwort auf diese Frage. Da heisst es: «Mohammed, Du wurdest entsandt für alle Menschen ausschliesslich als Barmherzigkeit.» Daher würde ich nun spontan antworten, der Kern des Islams, um den sich alles dreht, ist die liebende Barmherzigkeit. Damit sind wir nicht mehr weit weg von der Liebe.

Das würde man aber nicht gerade als erstes mit dem Islam assoziieren.

In der Tat. Heute assoziiert man den Islam mehr mit Gewalt, mit menschenfeindlichen Bildern oder mit der Diskriminierung von Frauen. Dies nicht ganz zu Unrecht, weil wir Muslime auch in Europa nicht immer ideales Bild des Islams repräsentieren. Wir leiden unter einer Bildungskrise in der islamischen Welt, vor allem in der arabischen. So gibt es immer noch viel Analphabetismus. Als Konsequenz dieser Krise wird der Islam sehr oberflächlich verstanden. So regen sich viele auf zum Beispiel über Karikaturen von Mohammed. Auf der anderen Seite protestiert keiner, wenn es um diktatorische Regime, um Ungerechtigkeiten, um das defizitäre Bildungssystem oder um gesellschaftliche Restriktionen geht.

Wo sehen Sie, als islamischer Religionspädagoge, Ansätze und Spielraum für eine bessere religiöse Bildung?

Heute wird in vielen Moscheen ein stark konservativer Islam vermittelt. In meinen Augen benötigen wir dringend einen reflektierten Zugang zum Islam für junge Menschen. Das kann idealerweise in Form von Religionsunterricht an den Schulen geschehen, als Fach wie jedes andere und mit entsprechenden schulischen Standards. Wir beklagen auf der einen Seite die Radikalisierung von jungen Menschen, auf der anderen Seite bieten wir keinen Ersatz für eine Bildung der Muslime. Deshalb ist der Religionsunterricht meines Erachtens zentral, um dort klare Positionen zu reflektieren. Wie geht man zum Beispiel mit dem Koran um und wie ist der sprachliche und historische Kontext zu verstehen? Dafür braucht es das Werkzeug. Die wortwörtliche Interpretation des Korans hilft uns da nicht weiter.

Es gibt wenige Stimmen, die sich laut gegen die radikalen Islamisten wenden. Ist es gefährlich, ein «progressiver» Muslim zu sein?

Grundsätzlich sind fundamentalistische Stimmen immer am lautesten und daher registriert man diese auch stärker. Andererseits stelle ich fest, dass nicht nur der Fundamentalismus und Salafismus wächst, sondern auch der Atheismus. So wollen immer mehr Muslime nichts mehr mit Religion zu tun haben. Die Mitte wird damit leerer. Es gibt in Europa nur wenige Theologen, die dem aufgeklärten Islam eine Stimme geben und so eine Alternative zu den fundamentalistischen Kreisen bieten.  Aber es ist auch so, dass aufgeklärte Stimmen viel Mut benötigen. Persönlich kann ich nur mit Polizeischutz an öffentlichen Orten auftreten. Ich erhalte immer wieder Morddrohungen. Die konservativen Seiten versuchen auch, mich zu diffamieren und schlecht zu reden. Ich habe viele Kolleginnen und Kollegen, die es toll finden, was ich mache, sich aber nicht in einen Diskurs einmischen wollen. Sie sind nicht bereit, freiwillig mit diesem Druck zu leben.

Welche Botschaft ist Ihnen im Kontext des Lehrganges wichtig?

Das Hauptanliegen ist für mich, ein differenziertes Bild des Islams aufzuzeigen. Wenn ich mit den Teilnehmenden spreche, überwiegt in vielen Köpfen das Negative. Zudem wird für mich generell zu wenig der spirituelle Aspekt des Islams thematisiert. Wir reden viel über Gesetze, Minarette und Kopftücher. Dabei geht aber der Bezug zu Gott und die islamische Spiritualität und Ethik verloren. Es geht also darum, diesen Schwerpunkt nochmals zu vertiefen.
   

Wie steht es um die islamische Spiritualität?

Der Islam ist in den letzten 150 Jahren stark zu einer Gesetzesreligion geworden. Technische Fragen wie zum Beispiel «Was darf ich, was darf ich nicht?» oder «Wie lang soll der Bart sein?» dominieren. Wenn man dann von Gottesliebe und Gottesbeziehung spricht, wird das sofort auf die Mystik als Randphänomen abgeschoben. Die religiösen Rituale der Muslime dienen aber letztlich dazu, ein Zwiegespräch mit Gott zu führen und somit Spiritualität zu entfalten. Es geht nicht darum, irgendwelche Pflichten zu erfüllen, sondern es geht primär um die Beziehung zu Gott, um ein Gebet des Herzens. So kann eine Pilgerfahrt nach Mekka als technische Pflichterfüllung betrachtet werden oder aber auch als Reise des Herzens, als spirituelle Erfahrung. Rituale ohne das spirituell pulsierende Herz sind nur leere Bewegungen.  

Was können wir als christliches Haus für den Dialog mit dem Islam tun?

Ich würde Räume der Begegnung schaffen, wo nicht nur religiöse Themen, sondern auch lebensnahe Dinge eingebracht werden können.  Dabei soll es darum gehen, dass Christen und Muslime sich gemeinsam austauschen und Geschichten erzählen, gemeinsam beten und singen.

 

Prof. Dr. Mouhanad Khorchide führt im Rahmen des Universitätslehrgangs «Spirituelle Theologie im interreligiösen Dialog» im Lassalle-Haus in den Islam ein und erörtert dabei insbesondere die unterschiedlichen spirituellen Traditionen. Dabei hat der Islam eine reiche Geschichte und aktuelle Präsenz spirituellen Lebens. Insbesondere der Sufismus ermöglicht eine interreligiöse Brücke zu den beiden monotheistischen Religionen von Judentum und Christentum.

Angebot zur Spiritualität des Islams im Lassalle-Haus:
Sufismus - Einführung in die Mystik des Islam
29.11. - 1.12.2019
Kursleitung: Peter Hüseyin Cunz

 

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