Interview mit Rabbiner Tovia Ben-Chorin
Ist die Religion da, um uns zu dienen oder sind wir da, um der Religion zu dienen?
Tovia Ben Chorin, 1936 in Jerusalem geboren, ist seit 2017 Rabbiner in St. Gallen und dort für eine kleine jüdische Gemeinde verantwortlich. Der weitgereiste liberale Rabbiner wurde nach dem Gymnasium zum Militärdienst einberufen und erlebte 3 Kriege, 1956, 1967, 1973 hautnah. Nach dem Studium der Bibel- und jüdischen Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem besuchte er das Rabbinerseminar in Cincinnati, Ohio und wurde 1964 als Rabbiner ordiniert. Es folgten 30 Jahre als Rabbiner in Israel, bevor es ihn in die Welt zog: USA und Europa – zuletzt wirkte er unter anderem in Berlin, Manchester und Zürich.
Schon in seiner Kindheit in Jerusalem hatte Tovia Ben-Chorin Kontakt mit Christen und Muslimen und ist mit dem interreligiösen Dialog gross geworden. Dieser ist ihm heute immer noch sehr wichtig. Im Lassalle-Haus ist Tovia Ben-Chorin Referent im Lehrgang Spirituelle Theologie im interreligiösen Prozess zur Begegnung mit dem Judentum.
Sie haben sich Zeit Ihres Lebens dem interreligiösen Dialog verpflichtet. Warum ist dieser so wichtig für Sie?
Im liberalen Judentum ist Religion eine private Sache geworden. Aber auch wenn sie privat ist, als Menschen brauchen wir eine Gemeinschaft. Die Frage ist nun: Was zieht eine Gemeinschaft zusammen? Ist die Religion da, um uns zu dienen oder sind wir da, um der Religion zu dienen? Viele Menschen würden sagen, die Religion ist hier, damit ich Gott diene. Ich bin mir nicht so sicher, ob Gott die Menschen überhaupt zum Dienst benötigt. Aber was für mich klar ist: Ohne Gott landen wir in einem totalen Chaos. Daher ist mir der interreligiöse Dialog so wichtig. Denn hier entsteht eine Weltanschauung, die nicht nur für Israel, den Vatikan oder Saudi-Arabien gilt, sondern für alle Menschen. Gerade im Dialog lernen wir, uns für andere Anliegen zu öffnen, besser zuzuhören und kommen davon ab, uns immer nur zu verteidigen.
Wie steht es um den Dialog mit Palästina?
Leute, die im Dialog sind, sind meistens Leute, die in Hoffnung leben. Es basiert auf dem Gefühl, dass das Gegenüber auch ein Mensch ist: Ein Mensch, der leben will, und ich muss ihn verstehen. Im Israel-Palästina-Konflikt heute lebt jeder für sich alleine, jeder hat Recht.
Das Wort «Vertrauen» ist im Hebräischen dasselbe Wort wie «Glaube». Ich habe das Vertrauen, dass der andere Mensch eigentlich auch im Frieden leben will. Im Israel-Palästina-Konflikt geht es nun darum, dem andern wirklich zuzuhören und versuchen zu verstehen, was ihn berührt.
Was ist Ihre Vision für Israel und Palästina?
Mein Traum wäre eine Art Schweizer Konföderation bestehend aus Israel, Westbank und Transjordanien. Am Schweizer Modell begeistert mich, wie die unterschiedlichen Sprachregionen und ethnischen Gruppen zusammenleben. Keiner will den andern unterdrücken. Natürlich hilft es dabei, dass es der Schweiz ökonomisch gut geht. Aber es funktioniert und die Schweiz hat es geschafft, sich aus zwei Weltkriegen heraus zu halten. Ich hoffe, dass wir in naher Zukunft eine ähnliche Rolle einnehmen wie die Schweiz. Die Geschichte zeigt, dass die grosse Herausforderung jeweils nicht die Revolution selbst ist, sondern was danach kommt. Was wollen wir genau aufbauen? Gegen etwas sein, ist immer viel einfacher, etwas Positives aufbauen hingegen ist viel schwieriger, weil die Sichtweisen des Aufbaus jeweils sehr unterschiedlich sind. In diesem Dilemma steckt Israel heute.
Können Sie ein Beispiel für einen gelungenen Aufbau nennen?
Ich war in Israel Leiter der Jugendbewegung und hatte dort die Gelegenheit, mit einer Gruppe von Schülern einen Kibbuz zu gründen. Diese Gruppe hat nach dem Militärdienst im Süden Israels den Kibbuz weitergeführt. Es ist schön zu sehen, wie dieses Projekt gewachsen ist: Das Besondere an diesem Kibbuz ist, dass sie als Gruppe ein Verfahren entwickelt haben, Häuser aus alltäglichen Materialien zu bauen. So verwenden sie Sand, Heu und Plastikmaterialien wie Pneus und Plastikflaschen für den Hausbau und bauen mit diesem Verfahren bereits zweistöckige Häuser. Dieses Know-how geben sie heute in Afrika weiter und helfen damit den Leuten vor Ort. Das ist für mich ein Weg, seine Religion im wahrsten Sinne zu leben. Ihr Glaube kommt zum Ausdruck, wir nennen es «Tikun Olam» - die Welt zu vollenden, die Welt wieder ganz zu machen. Der Mensch als Ko-Partner des Schöpfers. So wird im universalen Sinne eine Harmonie zwischen Schöpfer, Schöpfung und Erschaffenem hergestellt. Im jüdischen Sinn ist es das Dreieck: Gott Israel, Volk Israel, Land Israel. Dies ist sozusagen mein Davidstern.
Was ist der Kern der rabbinischen Spiritualität?
Der Kern der Spiritualität im liberalen Judentum ist eine Liebe zur Tradition. Diese ist anzusehen als ein menschlicher Ausdruck, der auf dem Dialog zwischen Mensch und Gott aufbaut. Und nicht alles, was in der Tradition ist, ist direkt von Gott. Da verwenden wir auch die moderne Forschung, um uns selbst besser zu verstehen. Zudem wollen wir bewusst eklektisch sein. Das heisst, wenn sich die Welt verändert, müssen wir uns auch neu ausrichten. Da hilft mir schon sehr die kritische Form des liberalen Judentums. Das Göttliche ist dabei der Kompass meines Lebens.
Wenn immer ich nach einer Antwort suche, frage ich mich: Was sagt die Tradition? Wie lebe ich damit? Und schliesslich finde ich immer wieder Meinungen in der Tradition, die mir weiterhelfen. In unseren Schriften wurden auch Meinungen festgehalten, welche zu jener Zeit nicht akzeptiert wurden. Im Talmud fragt man sich: Warum wurden diese Meinungen aufgeschrieben? Eine Antwort könnte sein: Für eine Situation in der Zukunft. Jeder Mensch hat das Recht, sein Verhältnis zu Gott aufzubauen. Ich als Rabbiner versuche dann in der Gemeinde, den Leuten zu helfen, in Ihrem Judentum Sinn zu finden. Ich glaube, wir Juden spielen in unserer Existenz eine wichtige Rolle. Durch uns ist die biblische Ethik immer noch eine Realität und nicht ein utopischer Traum.
Welche Rollen spielen dabei Rituale?
Im Grunde genommen sind wir primitive Wesen. Ich als Rabbiner brauche Kulte, den Gebetsmantel, die Tora-Rolle, den Sabbat, die Feiertage. Ich kann nicht mit abstrakten Dingen alleine leben, da bin ich nicht geistig genug. Daher benötige ich religiöse Symbole, um abstrakte Gedanken zu verinnerlichen. Das ist ein Prozess, der nie zu Ende geht.
Warum ist das jüdisch-christliche Gespräch für Sie wichtig?
Ich glaube, dass man das Neue Testament besser verstehen kann, wenn man die rabbinische Literatur der Zeit und die Polemik zwischen Juden und Christen kennt. Wir sind nicht einfach im Dialog mit den Christen, vielmehr sind wir Geschwister, eine Art Familie. Und in jeder Familie gibt es Krisen, so auch zwischen Juden und Christen. Vielleicht sind wir heute in einer Zeit, wo wir diese Krise besser verstehen können. Doch viele Juden haben immer noch Angst vor dem Christentum. Sie sehen den christlichen Dialog als eine Art Falle, um von den Christen missioniert zu werden. Für uns als kleine Minorität ist es eine Herausforderung, Jude zu sein.
Sind Hebräischkenntnisse hilfreich für das Verständnis der Bibel?
Jede Sprache ist nicht nur eine Ausdrucksform sondern verkörpert auch die Psyche der Leute, welche sie benutzen. Wer hebräisch denkt, denkt in Wörtern, die eine gemeinsame Wurzel haben. Aus dieser Wurzel werden dann mehrere Wörter geformt. Ein Beispiel: Das Wort für «Quelle» ist dasselbe Wort auch für «Auge». Dabei sehen Sie die Vielschichtigkeit der Sprache. Ohne Sprachkenntnisse fehlt aber die entsprechende Assoziation. Um die Bibel besser zu verstehen ist es natürlich leichter, wenn man die Quellen versteht. Das ist auch der Grund für die vielen verschiedenen Übersetzungen: diese vertreten eher den Standpunkt des Übersetzers als des Textes selbst. Wenn sie den Text im Original lesen, dann können Sie ein eigenes Verständnis darüber entwickeln.
Christian Rutishauser SJ ist Schweizer Jesuit und Judaist. Was verbindet Sie mit ihm?
Christian Rutishauser ist ein guter Freund von meiner Frau und von mir. Wir kennen uns aus der Zeit, als er noch Studentenpfarrer in Genf war. Seitdem ist diese Freundschaft erhalten geblieben und wir pflegen regelmässig den Dialog zu christlich-jüdischen Fragen. Was diesen Dialog so besonders macht, ist der Weg, wie wir auch über eigene Schwächen sprechen können und dabei voneinander lernen. So einen klugen und bescheidenen Menschen trifft man nicht jeden Tag. Christian ist für mich das Ideal für einen Jesuiten.
Der nächste Universitätslehrgang „Spirituelle Theologie im interreligiösen Prozess“ startet im Oktober 2021. Weitere Details
Unsere Angebot in der jüdisch-christlichen Spiritualität:
Jüdische Meditation, 14. - 17.8.2018, Kursleitung Gabriel Strenger
Bibel spirituell gelesen, 17. - 19.8.2018, Kursleitung Gabriel Strenger / Christian Rutishauser SJ
Humanismus aus jüdischen Quellen, 2. - 4.11.2018, Kursleitung Michel Bollag
Hebräischwoche, 20. - 25.1.2019, Kursleitung Annette Böckler / Christian Rutishauser SJ