15.12.2016 16:19

Begegnung der Religionen

Ordnende Kraft Schabbat und Sonntag

Die Hebräischwoche hat eine feste Tradition, eine treue Anhängerschaft und viel Raum auch für Neulinge: Sie findet bereits zum 42. Mal statt, alternierend jeweils im Kloster Kappel und im Lassalle-Haus – vom 22. bis 27. Januar nun wieder in Bad Schönbrunn.
Jedes Jahr sind Anfänger wie Fortgeschrittene dabei. Das ungezwungene Lernen in unterschiedlichen Klassen hat sich als bewährte Form erwiesen. Die einen üben das Alphabet, erste Worte und Sätze, die anderen erschliessen sich altbekannte Texte über die Originalsprache neu. Und alle vertiefen sich während Referaten und Gesprächsrunden ins Wochenthema: Dieses Mal ist es Schabbat und Sonntag.

Das Judentum setzt seit alters her auf den Sieben-Tage-Rhythmus und pflegt bis heute die Kultur des Schabbat. Das Christentum hat den Rhythmus übernommen, und mit dem Sonntag als Tag der Auferstehung fand er weltweite Verbreitung: Der Lohnarbeit wird ihren Platz zugewiesen und Freiraum für die Beziehungspflege mit Gott und den Mitmenschen geschaffen – dies der ursprüngliche Sinn von Sonntag und Schabbat.

Michel Bollag und Christian Rutishauser leiten die Woche. Sie kennen und schätzen sich seit vielen Jahren. 2015 publizierten sie das Interview-Buch «Ein Jude und ein Jesuit – im Gespräch über Religion in turbulenter Zeit». Zwei Menschen, zwei Ansichten zum einen Thema, das beide tief ergriffen hat: ihre Beziehung zu Gott.

Im Folgenden geben Michel Bollag und Christian Rutishauser Einblick in ihre Freundschaft, in ihre urpersönliche Auffassung auch von Schabbat und Sonntag. Wir stellten dem jüdischen Dozenten und dem Provinzial der Schweizer Jesuiten die im Sinn nach gleichen Fragen – separat, ohne dass der eine dem andern zuhören konnte.

Hebräischwoche
Schabbat und Sonntag – Auszeit für die Seele
22. bis 27. Januar 2017, So 18:30–Fr 13:00

„Uns trennt nichts. Ausser unseren Glauben natürlich“

Michel Bollag, erinnern Sie sich an Ihre erste Begegnung mit Christian Rutishauser?  
Dass muss in den späten 90er Jahren gewesen sein, ich arbeitete damals bereits im Zürcher Lehrhaus. Christian kam vorbei, besuchte Martin Cunz, den damaligen christlichen Leiter im  Lehrhaus  und wollte sich vor Ort informieren, wie das bei uns so läuft. Er hatte gerade in Bern als Studentenseelsorger angefangen und zeigte grosses Interesse fürs Judentum. Mittlerweile ist er einer unserer Stiftungsräte und zieht tatkräftig mit. Das freut mich sehr.

Was verbindet Sie beide?  
Christians Spiritualität, sein tiefer Glaube und seine profunde Kenntnis des Judentums. Wenn ich etwas erwähne oder erzähle, muss ich nicht ausholen, wir pendeln uns schnell auf der gleichen Wellenlänge ein. Wir können auch herzhaft lachen miteinander. Christian ist im Grunde seiner Seele ein fröhlicher Mensch und entspricht so gar nicht dem stereotypen Bild eines stets auf Ernst bedachten Priesters.

Was trennt Sie?
Nichts. Ausser unseren Glauben natürlich. Ich könnte jetzt witzeln und sagen: Er ist ein schöner Mann und ich finde es eigentlich schade, dass er Priester geworden ist und nicht heiratete. Dies aus meiner Position, aus meinem Verständnis von Religion heraus. Die Familie hat im Judentum einen zentralen Stellenwert. Ein Rabbiner in einer Gemeinde ohne Familie kann man sich aus jüdischem Verständnis heraus kaum vorstellen. Familie ist eine starke Säule unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens und Glaubens.

Sind Sie sich auch schon mal in die Haare geraten?
Nein, das wäre mir nicht bewusst. Ausser vielleicht, als wir an unserem gemeinsamen Buch „Ein Jude und ein Christ“ arbeiteten. Es ging um Verlagstermine. Wir hätten mit dem Manuskript im Juli 2015 fertig sein sollen und ich probierte, die Frist noch etwas hinauszuzögern. Wir hatten beide alle Hände voll zu tun, es wurde zeitlich sehr eng. So ging meine erste Bitte noch durch. Bei meinem zweiten Versuch um etwas mehr Luft war Christian jedoch strikt und streng. Er wollte es durchziehen. Keine Rede davon, dass wir uns dabei in die Haare geraten sind. Aber sagen wir es so: Ich musste mich fügen.  

Welches ist Ihr glücklichstes Erlebnis mit Freund Rutishauser?
Das Schreiben an besagtem Buch. Christian hat mich zuvor immer wieder als Kursleiter ins Lassalle-Haus geholt, wir haben auch gemeinsam Kurse geleitet, und auch da gab es glückliche, tiefe Begegnungen. Aber ein gemeinsames Buch – das ist noch einmal etwas ganz anderes. Vieles, was uns verbindet und trägt, wurde durch die intensive Auseinandersetzung mit Glaubens- und Lebensfragen noch vertieft. Besonders spannend fand ich, als wir uns über persönliche Befindlichkeiten unterhielten. Das waren starke Momente. Sehr schön war zudem, als Christian einmal an einem Freitagabend zur Schabbatfeier zu uns nach Hause kam.

Wann sind Sie zum ersten Mal dem Christentum begegnet?  
Als Mitglied einer Minderheit in der Schweiz, aufgewachsen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, gehört das Christentum von Anfang dazu. Es ist die Mehrheitskultur des Landes, man begegnet ihr, wenn stündlich die Glocken läuten, an Feiertagen, an Weihnachten – ein schönes Fest mit Lichterglanz und festlicher Atmosphäre, ein dominantes Fest auch, um das man nicht herum kommt. Das hat mich geprägt, das ist ein Teil meines Lebens. Aber wirklich erstmals inhaltlich dem Christentum begegnet bin ich mit acht oder neun Jahren, als wir mit der Familie in Zermatt in den Ferien waren und in unserem Hotel auch ein katholischer Priester einquartiert war. Ich habe mich schon als Kind für alles Mögliche interessiert und gern Fragen gestellt, und so kam ich ins Gespräch mit dem guten Mann – ich weiss nicht, worüber ich Dreikäsehoch mit dem schon etwas älteren Priester geredet habe. Aber es war zweifellos sehr interessant, ich erinnere mich bis heute genau an die Atmosphäre des Gesprächs.  

Wo fühlen Sie sich im Christentum besonders daheim?
Daheim fühlt sich ein Jude im Christentum eigentlich nicht. Er fühlt sich eher fremd durch die Geschichte, die uns voneinander entfremdet hat. Aber es gab für mich immer auch eine Faszination – für die Musik, für die geistlichen Lieder im Gottesdienst etwa. Ein Requiem von Verdi ist ein monumentales Werk. Obwohl für mich fremd, fasziniert mich auch das Monastische. Klöster haben für mich eine grosse Ausstrahlung.

Wenn Sie nochmals auf die Welt kämen und beim nächsten Mal Christ wären, nichts aber vergessen hätten: Was würden Sie vermissen?
Den Stallgeruch, die Beheimatung, die Familie. Jeder Schabbat, jeder Freitagabend, jeder Synagogenbesuch am Samstagmorgen, die Gesänge, die wir pflegen – das würde mir fehlen. Schabbat feiern ist für mich, als würde die Zeit angehalten und eine neue Zeitenordnung beginnen, ja sogar als würde ich eine andere Luft einatmen. Ich habe das schon als kleiner Bub so empfunden. Ich bin in Genf aufgewachsen, und wenn ich mit meinem Vater in die Synagoge lief, fuhren die Autos neben uns vorbei, passierten uns Menschen in geschäftigem Schritt, und ich hatte das Gefühl: Ich bin in einer anderen Welt. Wir verzichten an Schabbat auf jegliche technische Hilfsmittel. Und heute, in der 24-Stunden-Gesellschaft, der ständigen elektronischen Erreichbarkeit ist dieses Gefühl des Innehaltens noch viel stärker geworden. Es ist eine Retraite auf Zeit – das Geheimnis von Schabbat. Jeder unserer Feiertage wie Pessach baut darauf. Neben diesen emotionalen würde ich auch die intellektuellen Aspekte vermissen: das stete Lernen, die Verbundenheit mit der Thora. Ich befasse mich intensiv mit diesen Texten und versuche immer wieder von neuem, sie zu erfassen und zu interpretieren. Das hat mich sehr geprägt – das macht mich aus. Auf diese tiefe Auseinandersetzung mit der Thora zu verzichten, wäre sehr schwer.

«Christen wollen über Gott reden. Juden über Bibel und Tora»

Christian Rutishauser, erinnern Sie sich an Ihre erste Begegnung mit Michel Bollag?
Das muss im Zusammenhang mit der Eröffnung des Zürcher Lehrhauses Anfang der 90er Jahre gewesen sein, gegen Ende meines Theologiestudiums. Ich war noch keine 30, er zehn Jahre älter. Auch wenn ich mich nicht mehr im Detail an die Begegnung erinnere, so weiss ich noch klar, wie fasziniert ich war, einen so gebildeten Mann aus der jüdischen Tradition kennen zu lernen und mit ihm über Gott und die Welt diskutieren zu können. Mittlereile ist daraus eine über 20-jährige Freundschaft entstanden.

Was verbindet Sie beide?
Wir stammen beide aus einer grossen Tradition, die wir einerseits wertschätzen und ihr andererseits wohlwollend kritisch gegenüber stehen. Beide versuchen wir, unsere Traditionen in der zeitgenössischen Gesellschaft zu leben und mit der Postmodere zu verbinden. Und beide leben wir aus einer Minderheitenposition heraus: Michel Bollag objektiv als Mitglied einer Gemeinschaft mit nur 20 000 Juden in der Schweiz und ich gefühlsmässig als Christ mitten in einer religiös kaum interessierten Mehrheit. Ich nehme mein Umfeld als säkular wahr. Religion ist zwar ästhetisch vorhanden in Konzerten, Kirchenbauten, Museen etwa. Doch der Glaubensvollzug fällt für die meisten weg. Ich hingegen lebe existentiell aus dem Christentum heraus und empfinde mich ebenfalls in einer Minderheit.

Was trennt Sie?
Darüber haben wir viele Jahre nicht geredet: Jesus Christus war nie ein Thema. Erst in letzter Zeit haben wir uns darüber ausgetauscht. In der jüdischen-rabbinischen Tradition redet man weniger über Gott – man redet über die Tora oder die Bibel, über Ethik und Weltgestaltung. Christen hingegen wollen oft über Gott reden.

Sind Sie sich auch schon mal in die Haare geraten?
Nein, nie. Die heissesten Themen, die wir miteinander diskutieren, kreisen um den Israel-Palästina-Konflikt, und auch da kam es nie zu Überwerfungen, weil wir beide eine selbstkritische Sicht der Dinge haben. Unser Blick richtet sich stark auf die palästinensische Bevölkerung. Wir sind uns einig, dass Rechtstaatlichkeit und Menschenrechte unverhandelbare Werte einer Gesellschaft sind. Und wir anerkennen trotz allem, dass Israel ein Sonderfall ist.

Welches ist Ihr glücklichstes Erlebnis mit Freund Bollag?
Die gemeinsame Hebräisch-Kurswoche 2015 in Israel – das gemeinsame Erleben von Jerusalem. Das hat eine Vorgeschichte. Der Zufall wollte es, dass 2009 sich meine und seine Reisegruppe auf den Golanhöhen trafen. Es war ein herbstlich milder Tag, wir besuchten das Antiken-Museum in Katzrin, eine Art Ballenberg mit talmudischem Dorf. Daneben gibt es eine Weinkellerei, wir trafen uns in der Degustationshalle. Zum Weintrinken hat die Zeit nicht gereicht. Dafür ist die Idee für dieses wunderbare gemeinsame Projekt entstanden – eine Hebräischwoche in Jerusalem.

Wann sind Sie zum ersten Mal aufs Judentum gestossen?  
An der Kantonsschule in St. Gallen, in den 80er Jahren im Geschichtsunterricht. Die öffentliche Aufarbeitung der Shoa hatte gerade erst begonnen. Ich war damals 15, ein sensibler Gymnasiast voller Idealismus – ich war geschockt, was ich da erfuhr. Ich habe das Thema für meine Abschlussarbeit gewählt und hatte vor, Geschichte oder Philosophie zu studieren. Theologie drängte sich erst später auf.  Mein Interesse am Judentum war in diesem Sinn früher als an der christlichen Theologie.

Wo fühlen Sie sich im Judentum besonders daheim?
Ich war schon etliche Male zu Schabbatfeiern eingeladen, während meiner Zeit in Israel und hier in der Schweiz, auch bei Michel Bollag. Am Freitagabend feiert und isst man miteinander, spricht Gebete, pflegt Familienbande und Freundschaften, geht in die Synagoge, kommt zur Ruhe, erholt sich – wunderschön. In Israel ruht der Autoverkehr, tritt der lärmige Alltag buchstäblich zurück. Damals bei meiner Rückkehr aus Jerusalem fand ich, das wäre doch auch bei uns möglich und fand den Ansatz mit den zwölf autofreien Sonntagen toll. Die religiöse Kultur des Innehaltens ist bei uns am Zerfallen, umso mehr gilt es, den Sonntag neu zu pflegen. Für mich persönlich ein Tag mit einer feierlichen Messe, ein an sich geheiligter Tag, an dem ich keine administrative, organisatorische Arbeit erledige und keine Emails lese, sofern ich nicht unbedingt muss. Das Unverzweckte am Sonntag ist für mich erneut wichtig geworden – auch wenn ich als Priester und Kursleiter oft am Sonntag «arbeiten» muss. Auch fühle ich mich im Judentum sehr daheim, wenn die Bibel ausgelegt wird. Die rabbinische Vorgehensweise hat mir nochmals ein grosses Fenster geöffnet. Nicht die historisch kritische Auslegung steht dabei im Zentrum, sondern der Text als solches. Es ist ein literarischer Zugang, man füllt die Leerstellen mit weiteren theologischen Geschichten, entfaltet die psychologischen Hintergründe, formuliert Fragen an den Text. Die narrative Theologie hat mir die Freude an der Heiligen Schrift lebendig gehalten.

Wenn Sie nochmals auf die Welt kämen und beim nächsten Mal Jude wären, nichts aber vergessen hätten: Was würden Sie vermissen?
Ganz klar: die sehr persönliche Beziehung zu Christus, zum Nazarener, zum Juden aus Galiläa, der vor 2000 Jahren die Welt so fasziniert und bewegt und uns so wunderbare Gleichnisse geschenkt hat. Ein revolutionär Handelnder, der mit den verachtetsten Schichten – Zöllner, Söldner, Huren, Ehebrecherinnen – absolut angstfrei, ohne Vorurteile umgegangen ist. Diesen grossen Weisheitslehrer und Gottes Sohn, dem ich so viel Heilung und Heil verdanke, würde ich sehr vermissen. Das andere: Ich würde den katholischen Gottesdienst, die feierliche Liturgie vermissen. In dieser Vergegenwärtigung der Heilsgeschichte bin ich tief beheimatet.

Literatur

Michel Bollag, Christian Rutishauser
Ein Jude und ein Jesuit
Matthias Grünewald Verlag, Oktober 2015

Das Zweite Vatikanische Konzil hat vor 50 Jahren das Verhältnis der katholischen Kirche zum Judentum theologisch neu bestimmt: Dialog ist nötig, um den Anderen und im Anderen sich selber zu verstehen.

Michel Bollag und Christian Rutishauser nehmen als Jude und als Christ diesen Auftrag zum Dialog ernst. In ihrem intensiven Gespräch geht es einerseits um klassische, bis heute wirkende Fragen wie Alter Bund und Neuer Bund, Gottesverständnis und Offenbarung. Andererseits greifen sie aktuelle, politisch höchst brisante Probleme auf wie Evangelisierung und Judenmission, Landverheißung und Staat Israel, Dialog mit dem Islam und mit der postsäkularen Gesellschaft.

Ein spannender, inspirierender und orientierender Gegenpol zu einer unübersichtlichen und auseinanderdriftenden Welt.

Christian Rutishauser
Christsein im Angesicht des Judentums
Echter Verlag, Würzburg 2008

Über fast zwei Jahrtausende hinweg verstanden die Christen die Juden nicht, die Gegnerschaft war schmerzlich und allzu oft gewalttätig. Heute versucht die Christenheit, sich mit dem Judentum zu versöhnen, die eigenen jüdischen Wurzeln wieder zu entdecken.
Christian Rutishauser erzählt die neuere Dialoggeschichte der Christen und der Juden, er beschreibt die Zwillingsgeburt der Kirche und des rabbinischen Judentums, und er erschließt spirituelle Quellen jüdischer Mystiker und Denker für suchende Christen.

Christian Rutishauser
Zu Fuss nach Jerusalem
Patmos-Verlag, Januar 2013

Zwei Männer und zwei Frauen brechen in der Schweiz zu Fuß zu einer ungewöhnlichen Pilgerschaft auf: Sieben Monate später wollen sie Weihnachten in Jerusalem feiern. Unterwegs durch Krisengebiete und Regionen, die durch religiöse Spannungen geprägt sind, fühlt sich die Pilgergruppe ganz dem friedlichen Dialog der Religionen verpflichtet. Christian Rutishauser erzählt von intensiven Monaten auf geschichtsträchtigen Spuren und der Vorbereitung darauf. Spirituelle Erfahrungen, die Begegnung mit Juden und Muslimen sowie das Engagement für Frieden und Gerechtigkeit stehen im Zentrum. Ein faszinierender Pilgerbericht, der anregt, eine noch ungewöhnliche Pilgerroute kennenzulernen und Pilgern als einen Dienst an Dialog und Frieden zu verstehen.

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