Interview mit der Bibelwissenschafterin Sabine Bieberstein
Die Christuserfahrung des Paulus
Sabine Bieberstein ist Bibelwissenschafterin und als Referentin im Rahmen des Universitätslehrgangs Spirituelle Theologie im interreligiösen Prozess engagiert. Sie setzt sich mit der Mystik des Paulus auseinander. Theres Spirig-Huber, Lehrgangsbegleiterin, hat ihr ein paar Fragen zur Mystik des Paulus gestellt.
T.S.: Sie sind Referentin zur Frage, ob Paulus ein Mystiker war. Paulus, das ist doch der Briefeschreiber mit klaren Anweisungen fürs damalige Gemeindeleben. Was soll denn nun daran mystisch sein?
B: Ja natürlich ist Paulus ein Briefeschreiber, so kennen wir ihn, seine Schriften sind auf diese Weise im Neuen Testament überliefert und kanonisiert worden. Das mit den klaren Anweisungen fürs Gemeindeleben würde ich dagegen etwas differenzierter sagen: Paulus ist sehr im Gespräch mit den Gemeinden. Es geht weniger um Anweisungen, als vielmehr darum, gemeinsam Antworten auf brennende Fragen zu finden und um eine Lebensweise zu ringen, die der Christusbotschaft entspricht. Einen Ansatzpunkt für seine Mystik sehe ich in seiner Christusbegegnung. Die hat ihn geprägt, sie ist der Nährboden für seine Botschaft. Die Gottes- und Christuserfahrungen prägen nicht nur seine Verkündigung, sondern auch sein Leben, sein Dasein in der Welt und die Art und Weise, wie er mit den Gemeinden umgeht.
T.S.: Wir haben uns in diesem Seminar schon damit befasst, inwiefern Jesus ein Mystiker war. Was ist denn das Spezifische bei Paulus oder welche Unterschiede, welche Gemeinsamkeiten sind für Sie wichtig?
B: Was für mich bei Paulus ganz wichtig ist, ist seine tiefe Christuserfahrung, die er hatte. Von dieser hat er sich packen lassen, so dass er sein Leben auf den Kopf gestellt und sein ganzes Leben für diesen Christus eingesetzt hat. Und was ist das Verbindende zwischen Jesus und Paulus? Für Jesus war klar: Das Reich Gottes ist da, es hat jetzt angefangen und breitet sich unaufhaltsam aus, man kann und soll sich darauf einlassen – und das verändert alles. Das ist eine ungeheure Dynamik, eine Kraft, aus der heraus man leben kann, und die es ermöglicht, die Welt und die Menschen anders zu sehen und neu und anders zu handeln (so wie es zum Beispiel in der Bergpredigt gesagt wird). Eine ähnliche Erfahrung war prägend für Paulus: Gott hat sich in Jesus Christus allen Menschen zugewandt und einen neuen Raum des Heils für alle Menschen eröffnet. Das heißt: die alten Strukturen von Unrecht und Gewalt, von Sünde und Schuld sind entmachtet, es muss nicht mehr alles so weitergehen, wie es schon immer war. In dieser Dynamik und in dieser Kraft ist etwas Neues und Anderes möglich. Das ist für mich eine wesentliche Parallele.
T.S.: Das zeigt sich dann zum Beispiel in einem Satz, wenn Paulus schreiben kann: «Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir.» Das wäre dann ein Ausdruck, dass diese Dynamik auch ihn ganz erfüllt.
B: Ja, so würde ich das auch sehen. Er ist ganz geprägt von diesem Christus. Im Sinne der traditionellen Mystik wäre das wahrscheinlich ein Subjekt- oder Personenwechsel, der da stattgefunden hat.
T.S.: Jetzt gibt es ja gerade Frauen und Sie haben sich ja auch mit den Frauen in den paulinischen Briefen auseinandergesetzt, die sich an manchen Stellen schwertun mit Paulus. Jesus ist ein Mann, Paulus ist auch ein Mann: Wie sieht denn das nun aus in Bezug auf die Stellung der Frauen oder überhaupt auf Frauen? Gibt es Ansätze einer weiblichen Mystik? Werden wir diesbezüglich bei Paulus fündig?
B: Weibliche Mystik würde ich jetzt nicht direkt sagen, aber eine Mystik, die Räume öffnet, dass alle Menschen, Frauen und Männer, Juden und Griechen, versklavte Menschen und freigeborene Menschen gleich-wertig und gleich-würdig sind. Der Galaterbrief drückt das so aus, dass alle den «Sohnesstatus» bekommen, also «Söhne Gottes» – heute würde wir sagen: Söhne und Töchter Gottes – sein können. Wer getauft ist, hat «Christus wie ein Gewand angelegt». Er oder sie ist Träger, Trägerin der Geistkraft, die jedem und jeder einzelnen ihre Gaben (Charismen) schenkt. Das bestimmt jeden einzelnen Menschen, und das prägt das neue Miteinander unter den Getauften. Auf diese Weise sind ganz neue Freiräume für Frauen entstanden. In den Paulusbriefen werden Frauen als Apostelinnen, Prophetinnen und Diakoninnen sichtbar, sie haben Gemeinden geleitet und das Evangelium verkündet, und Paulus hat ganz selbstverständlich mit ihnen zusammengearbeitet.
T.S: Sie sagen ja eindeutig, natürlich war Paulus ein Mystiker. Sie haben jetzt auch gesagt in welchem Sinn. Warum soll das für mich heute wichtig sein, gerade auch als Frau?
B: Weil diese Erfahrung, diese Gottes- oder Christuskraft, die mir hilft neu und anders zu leben, heute immer noch relevant ist. Für mich ist dies ein tragender Grund für jegliche Spiritualität: aus diesem Christus heraus das Leben und die Welt gestalten. Dies nicht in dem Sinne, dass alte traditionelle Muster weitergeführt werden, sondern dass alles neu und anders werden kann. Für mich als Frau heißt dies zum Beispiel, anerkannt zu sein, oder auch, meine Berufung leben zu können. Darin weiß ich mich mit vielen anderen – Frauen und Männern – solidarisch verbunden.
Der nächste Universitätslehrgang „Spirituelle Theologie im interreligiösen Prozess“ startet im Oktober 2021. Weitere Details
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