Demokratie auf dem Prüfstand
Lassalle Ethik Forum
Tobias Karcher, Erwin Teufel, Beatrice Bowald, Urs Altermatt, Carlo Schmid-Sutter
Die direkte Demokratie war in den vergangenen Monaten europaweit im Gespräch. Manchmal mit einer Note der Bewunderung für die Möglichkeiten, die dieses System dem Volk bietet, manchmal auch mit einem vorwurfsvollen Unterton, gewisse Entscheide könnten doch nicht dem Volk überlassen werden. Den heftigen Reaktionen zum Trotz, die in Europa durch die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative provoziert wurde, outete sich Deutschlands Bundespräsident Joachim Gauck bei seinem Besuch in der Schweiz als Liebhaber der direkten Demokratie.
Am diesjährigen Lassalle Ethik Forum stand diese uneingeschränkt im Mittelpunkt. Carlo Schmid-Sutter, ehemaliger Landammann von Appenzell Innerrhoden, hob hervor, dass demokratisch verfasste Staaten positive Eigenschaften: sie sind stabil, friedlich, und die politischen Entscheide geniessen eine hohe Akzeptanz. Der Historiker Urs Altermatt betonte, dass in keinem anderen Land das Volk so oft und so direkt einen Einfluss auf die Aussenpolitik hatte als in der Schweiz. Doch die sich ändernden Rahmenbedingungen durch die Globalisierung, die Schaffung der EU und die damit einhergehenden Verbindungen haben auch zur Folge, dass sich Innen- und Aussenpolitik nicht mehr so einfach trennen lassen. Die direkte Demokratie wird sich diesen neuen Rahmenbedingungen wohl anpassen müssen. In diese Richtung argumentierte auch Nationalrat Louis Schelbert: Demokratie und Rechtsstaat drohen auseinander zu driften. Erste Warnzeichen dafür ortete er in Initiativen, welche Grundrechte tangieren, aber dennoch angenommen wurden, wie etwa in der Verwahrungsinitiative. Dramatisieren wollte er die Situation jedoch nicht: „Wir klagen auf hohem Niveau“, betonte er.
Insiderblick aus der EU
Wegen der anhaltenden Eurokrise haben viele das Vertrauen in die europäische Vision verloren. Erwin Teufel, Ministerpräsident a.D. von Baden-Württenberg, erzählte lebhaft aus seinen Erfahrungen mit den Erfolgen und Stolpersteinen der EU. Und plädierte dafür, die Staatengemeinschaft mehr vom Bürger her zu denken. Würde das Subsidiaritätsprinzip befolgt, d.h. das Zuständigkeitsprinzip, das der kleinstmöglichen Einheit den Vorrang gibt – etwa Gemeinde vor Kreis, vor Bundesland etc. – liessen sich direktdemokratische Prozesse einbringen. Und „Europa“ würde nicht länger als eine ferne Instanz wahrgenommen werden, welche Gesetze erlässt, die dem „einfachen Bürger“ das Leben schwer machen.
Wirtschaften Genossenschaften besser?
Demokratische Abläufe sind auch in der Wirtschaft zu finden – namentlich in den Genossenschaften. Gehen diese dadurch verantwortungsvoller mit Geld und Ressourcen um? Dieter Berninghaus vom Migros-Genossenschaftsbund und der Soziologe Thomas Held lieferten sich einen hitzigen Disput. Während Berninghaus argumentierte, Genossenschaften hätten in ganz Europa die Krise am besten überstanden, weil Interessengleichheit zwischen Kunden und Eignern herrsche und ihre Rechtsform sich nicht von den Finanzmarkten beeinflussen lässt, konterte Held damit, dass Genossenschaften nichts anderes als Corporations seien, die ganz ähnlich funktionieren, und das Corporate Government der meisten Firmen sei vergleichbar mit dem einer Genossenschaft.
Die Geburtsstunden einer Demokratie?
Zum Schluss des Forums entführte Jean-Marc Balhan SJ, Dozent für interkulturellen und interreligiösen Dialog in Ankara, das Publikum in die Türkei, einem Land, das in den vergangenen 40 Jahren diverse Annäherungsversuche an ein demokratisches System unternommen hat. Die typische Vorgehensweise dabei war jeweils „zwei Schritte vor, einen Schritt zurück“ – auf eine sehr liberale Verfassung folgte jeweils eine Destabilisierung und ein Militärputsch, bevor eine neue Regierung gewählt wurde und der Reigen wieder von vorne beginnen konnte. In welche Richtung sich die Türkische Regierung entwickeln wird, bleibt indes noch offen.