Impressionen aus dem Exerzitienlehrgang
Individuelle Entwicklung und konkrete Gotteserfahrung
Seit längerer Zeit besuche ich regelmässig Exerzitien und wende die ignatianischen Gebetsformen an. Die strukturgebenden äusseren Elemente wie Rückzug aus dem Alltag, Stille, Schweigen, Gespräch, Gebet und Gottesdienst bieten als Ganzes einen Rahmen, der dem Menschen die innere Erneuerung ermöglicht. Was die Bibel mit dem Begriff Bund zum Ausdruck bringt, kann hier real zwischen Gott und Mensch geschehen. In der Unmittelbarkeit vor Gott kann der menschliche Personenkern – die je eigene Berufung des Menschen – Schicht für Schicht freigelegt werden. Die Exerzitien stehen im Dienste der Menschwerdung, die aber nur von Gott her möglich ist, der selbst Mensch geworden ist. Für mich geht es in Exerzitien somit um den Kern der christlichen Botschaft, um die reale Verwandlung des Menschen in Christus und damit um einen tiefen Humanismus.
Auch kirchenferne Menschen nähern sich dank Exerzitien der Kirche an
Als Theologe ist die Ausbildung zum Exerzitienbegleiter für mich eine Vertiefung im Bereich christliche Spiritualität, um längerfristig im geistlichen Bereich zu arbeiten. Meine Erfahrungen in der kirchlichen Arbeit zeigen mir, dass heute viele Menschen mit religiösen Fragen nicht mehr in den traditionellen Kirchen Rat suchen. Psychologie, östliche Meditationsformen, Esoterik oder andere Religionen werden als Ansprechpartner bevorzugt. Oft fehlt auch das Wissen, dass es im Christentum selber einen reichen Schatz des spirituellen Übens gibt. Exerzitien ermöglichen nicht nur kirchlich sozialisierten, sondern gerade auch kirchenfernen Menschen, sich neu der Kirche anzunähern. Die im Zentrum stehende individuelle Entwicklung sowie die Erfahrungsbezogenheit machen Exerzitien gerade in der westlich-säkularen Gesellschaft zu einer anschlussfähigen spirituellen Form. Den Wunsch nach individueller Entwicklung, aber auch nach konkreten Gotteserfahrungen, nehmen die Exerzitien auf.
Theologisches Denken und spirituelle Praxis verbinden
Mich als Theologen überzeugen Exerzitien noch aus einem anderen Grund. Die Verbindung von theologischem Denken und spiritueller Praxis ist mir ein wichtiges Anliegen. Der Verlust der Fähigkeit, auf einer sachlichen Ebene über den Glauben Auskunft zu geben, geht einher mit dem Verlust der religiösen Identität. Das gleiche gilt auch für die spirituelle Praxis. Erfahrung ohne Wissen, Glaube ohne Vernunft reicht nicht, um in der Welt von heute dialogfähig zu sein und Auskunft zu geben. Gefühle schwanken und sollten nicht zum vorherrschenden Kriterium einer religiösen Identität werden. Die Exerzitien verbinden beide Seiten: Einerseits kann durch die Meditation biblischer Texte theologisches Denken selber zur Meditation werden, andererseits soll der biblische Text nicht einfach ein dem Menschen fremdes, äusserlich bleibendes Wort bleiben. Die Exerzitant/-innen sollen mit dem Text vielmehr in einen Dialog treten, in dem sie ihr eigenes Leben, ihre Gefühle und Sehnsüchte, in Gottes Wort hineinlegen und verwandeln lassen.
Den Lehrgang sehe ich für mich als Hilfe, um meine eigene bisherige Exerzitienerfahrung zu reflektieren und Anregungen zu erhalten, wie ich Menschen anleiten kann, die den geistlichen Weg gehen und ihre Berufung suchen.
Dominik Fröhlich-Walker, katholischer Theologe und Mitarbeiter der Katholischen Kirche Zürich