(Zen-)Meditation und luzides Träumen
Hell-Wach?
»Ganz Wach! Ganz wach!« ruft sich Meister Zuigan im 12. Koan des Mumonkan zu,
»Lass Dich nicht von anderen täuschen, an keinem Tag, zu keiner Zeit!«
Haben Sie während eines Meditationskurses schon einmal die Erfahrung gemacht, dass Ihre nächtlichen Träume intensiver, lebendiger, irgendwie realer oder bewusster waren als sonst? Oder dass Sie sich nach dem Aufwachen besser an sie erinnern konnten? Dass Sie sich während des nächtlichen Träumens plötzlich bewusst wurden, dass Sie sich gerade jetzt in einem Traum befinden?
Mein erstes Traumerlebnis dieser Art hatte ich 1994, am Ende einer intensiven dreimonatigen Meditationszeit bei Aitken Roshi in Hawaii. Wir hatten über drei Monate hinweg täglich viele Stunden meditiert und drei Zen-Intensivtrainings (sog. Zen-Sesshins) gehabt. Es waren die letzten Tage des dritten Sesshins, als ich mich eines Nachts plötzlich hellwach im nächtlichen Traumgeschehen wiederfand. Ich konnte meine Aufmerksamkeit bewusst lenken, kritisch Denken und erkannte, dass ich mich einem Traum befand und ich konnte bewusst entscheiden, was ich als nächstes machen wollte.
Zwei Jahre später nahm ich an einem Workshop von Paul Tholey teil, einem der Pioniere der Erforschung des luziden Träumens. Von da an hatte ich vermehrt luzide Träume, vor allem wenn ich meditierte. Heute erlebe ich nahezu jede Woche luzide Träume.
Tiefe Entspannung, hellwaches Bewusstsein
Meditation und luzides Träumen sind ähnliche Zustände. Beim Meditieren befindet sich der Körper ähnlich wie beim nächtlichen Schlafzustand in einer tiefen Entspannung und das Bewusstsein ist oft nach ein paar Tagen Meditation ganz wach, hell-wach, über-wach. Beim Klarträumen wird der Träumende nicht mitgerissen vom Traumgeschehen, sondern kann die Aufmerksamkeit, wie bei der Meditation, bewusst lenken. Klarträumen ereignet sich aber im Unterschied zur Meditation während dem Schlafen, wenn also die Seele keinen Kontakt mehr hat zum real existierenden Körper. Im Land der Träume gelten die Gesetzmässigkeiten des Alltagsdenkens nicht. Es gibt keine Schwerkraft, keine physikalischen Gesetze. Daher ist im Klartraum alles Möglich, was in der realen Welt nicht möglich ist: Fliegen, durch Wände gehen, unter Wasser atmen, Dinge kreieren – denn: alles ist ja geträumt. Das bedeutet aber nicht, dass sich der Traum vollkommen nach Belieben und Gutdünken des Träumers manipulieren liesse. Als Klarträumer kann ich mittels Gedanken, Wünschen, Absichten und Gefühlen Einfluss auf das Traumgeschehen nehmen, doch wie der Traumhintergrund – so nenne ich persönlich die gestalterische Kraft in den Träumen, die grösser ist als das Traum-Ich – die von mir gewünschte Szenerie umsetzt bleibt stets eine grosse Überraschung.
Träume mit hohem Realitätsgehalt
Manchmal kommen Menschen an meine Traumkurse, die das Klarträumen schon seit Kindesbeinen praktizieren, ohne sich dessen bewusst zu sein. Sie denken, solche Träume habe doch jeder. Oder sie haben irgendwann bemerkt, dass die Menschen um sie herum keine luziden Träume haben und haben aufgehört, darüber zu sprechen. Oder sie werten ihre Träume ab, indem sie sagen: „ach, das ist ja nur ein Traum!“ – ohne die Möglichkeiten von luziden Träumen wirklich auszuschöpfen. Die Mehrzahl der Menschen, die an meine Kurse kommen, kennen das luzide Träumen aber nicht oder nur vom Hörensagen. Wer zum ersten Mal einen luziden Traum erlebt, weiss plötzlich um die „Realität“ eines luziden Traums. Das Träumen bekommt, wenn man luzid wird, plötzlich einen grossen Realitätsgehalt. Wie das ist, kann man nicht beschreiben, es ist ähnlich, wie wenn man Meditation jemandem beschreiben wollte, der noch nie meditiert hat. Wer noch nie in einen Apfel gebissen hat, weiss nicht, wie es sich wirklich anfühlt, wie ein Apfel schmeckt. Es geht um die eigene Erfahrung!
Freiraum für Dinge, die man sonst nicht wagen würde
Einmal kam ein Mann an einen meiner Kurse, der das Klarträumen erlernte und als er erlebte, wie unglaublich realistisch das Fliegen im Klarträumen erlebt werden kann, hörte er mit seinem Hobby auf, das er im Alltag praktizierte: dem Segelfliegen. Das luzide Träumen ist ein Raum der Freiheit, in dem man Dinge ausprobieren kann, die man im Alltag nicht wagen würde. Aufgrund der Möglichkeit, Dinge im Traum auszuprobieren, die sie sich im realen Leben nicht gestattet hätte, verlor eine schüchterne junge Frau, die das luzide Träumen erlernte, die Furcht, Menschen spontan anzusprechen, mit Unbekannten Kontakt aufzunehmen, sich auffällig und modisch zu kleiden, die Aufmerksamkeit anderer auf sich zu ziehen. Eine Frau, die im Alltag unter Ängsten litt, stellte sich ihren Ängsten im Traum, indem sie beängstigende Traumgestalten direkt ansprach und ängstigende Umstände im Traum aktiv aufsuchte. Dabei erlebte sie, dass sich diese auflösten und sie mit ihren Ängsten kreativ und konstruktiv umgehen kann. Auf diese Weise verlor sie eine Zeitlang ihre Alltagsängste.
Klarträumen hat viele Potentiale und ermöglicht, in Begleitung eines erfahrenen Klarträumers, eine Selbstbegegnung zugunsten von mehr Lebendigkeit und Lebensfreude. Denn was in unseren Träumen passiert, ist oft mehr als „einfach nur ein Traum“. Auf zum Klarträumen also?
Peter Widmer