Eigen und manchmal gar nicht mehr artig
Im Gegensatz zum allgegenwärtigen «Machen wollen», dem wir in unserer (Arbeits-)Welt begegnen, steht in der Zen-Übung das «Geschehen lassen» im Mittelpunkt. Dies aus dem tiefen Vertrauen heraus, dass nichts von aussen in den Menschen hineinkommen muss. Vielmehr geht es darum, zur Entfaltung zu bringen, was im Menschen wie als Same angelegt ist. Ich möchte Menschen ermutigen und ermächtigen, zu ihrem ureigensten Ausdruck zu finden. Dass wir dabei nicht nur unsere Einzigartigkeit entdecken, sondern gelegentlich auch unsere Eigenartigkeit, gehört mit zum Programm – und manchmal auch, dass wir nur noch eigen und gar nicht mehr artig sind.
In der Begegnung mit meinem Lehrer und Zen-Meister Niklaus Brantschen erlebte ich das Ernstgenommen- und Angenommen sein über alle Fähigkeiten und Schwächen hinaus bis in die tiefsten Abgründe hinein als wohltuend und Vertrauen schaffend. Ihm ging es weniger um ein Vermitteln von Dingen, als vielmehr um eine Einladung und Aufforderung, das zu entdecken, was in mir und der Welt angelegt ist. Dazu zu stehen, sich daran zu freuen und es fruchtbar werden zu lassen in Situationen, mit denen ich konfrontiert bin und für Menschen, die mir anvertraut sind, ist eine grosse Bereicherung.
Stilles Sitzen – so unscheinbar, so wirkungsvoll
Die Grundübung besteht im stillen Sitzen, in einer Haltung, die es erlaubt, ganz wach da zu sein, in der Fokussierung auf den Atemfluss. So unscheinbar und unspektakulär diese Art der Übung auch scheinen mag, ihre Früchte sind zahlreich: von körperlichen Heilungsprozessen über psychische Stabilität bis hin zu tiefen Erfahrungen in Bezug auf das, was ein gutes Leben ausmacht. Wir sind, wie es das Englische schön sagt, eben nicht nur «human doings», sondern «human beings» – nicht nur handelnde, sondern seiende Wesen. So können wir Lebenssinn vor allem Tun erfahren und daraus handeln.
Diese Haltung findet sich wieder in meiner Situation als Zen-Lehrer. Ich will mit Menschen, die sich mir auf dem Zen-Weg anvertrauen entdecken, worin ihre Gaben und Aufgaben bestehen und wie sie sich konkret ausdrücken lassen. Es geht um das Vertrauen in das, was das Gegenüber ist – und noch alles werden kann.
Einer der grossen Meister der Zen-Tradition, ein Mönch mit Namen Dogen, erkannte nach vielen Jahren der Übung und auch des intellektuellen Studierens: «Jetzt habe ich erkannt, dass ich den Weg immer weiter gehen kann.» Das Ziel ist der Weg, auf dem Weg zu bleiben, selber Weg zu werden und Wegbegleiter. Das Wesentliche ist in uns angelegt und kann sich in der Beziehung zu einem guten Lehrer, einer guten Lehrerin immer klarer entfalten.
Auch sich selber mitfühlend begegnen
Natürlich waren dabei die Worte und Hinweise meines Zen-Lehrers von grosser Bedeutung. Noch wesentlicher erscheint mir die Befähigung, den eigenen Impulsen, dem eigenen Lebensfluss zu trauen – schlicht ermächtig zu werden, immer mehr der Mensch zu werden, der in mir angelegt ist. In der jüdisch-chassidischen Tradition heisst es, dass mit jedem Menschen etwas Einzigartiges in die Welt kommt. In einer Geschichte ausgedrückt: «Rabbi Sussja sagte: Im Himmel wird man mich nicht fragen, warum bist du nicht wie Mose gewesen, sondern, warum bist du nicht Sussja gewesen?»
Diese Ermutigung, durch das Sitzen in Stille zu sich zu stehen, mit sich gehen zu lernen, sich nicht aus dem Herzen zu entlassen, sondern sich und der Welt mitfühlender zu begegnen, das ist eine der Wirkungen der Zen-Übung, zu der auch die regelmässige Begegnung mit dem Lehrer, der Lehrerin gehört. Viele Menschen, die sich auf diesen Weg einlassen, kommen unter anderem aus dem Umfeld der Schule und Therapie. Präsentsein ist für Menschen in begleitenden, helfenden und führenden Berufen eine der fundamentalen Qualitäten. Dieses Präsentsein wird auf dem Zen-Weg geübt und kontinuierlich vertieft. Wer mit diesem Weg in Kontakt kommen möchte, tut gut daran, nicht nur darüber zu lesen, sondern sich dabei begleiten zu lassen, als ersten Schritt etwa eine Einführung in die Zen-Meditation zu besuchen.
Marcel Steiner