Eine Weihnachtsbetrachtung
Kurt Reuber kommt 1906 in Kassel zur Welt. Er lässt sich zum evangelischen Pfarrer und Arzt ausbilden und pflegt zeitlebens seine künstlerische Ader. Zum Heeresdienst in der deutschen Wehrmacht einberufen, wird er Truppenarzt an der Ostfront. Als im Juni 1941 Russland von Hitlerdeutschland überfallen wird, gelangt er bis nach Stalingrad. Dort schliessen russische Truppen im November 1942 den Kessel, mehr als 230‘000 Soldaten der Wehrmacht und ihrer Verbündeten stecken in der tödlichen Falle. Als sich im Februar 1943 die 90‘000 Überlebenden ergeben, gerät er mit in Gefangenschaft. Ein knappes Jahr später, am 20. Januar 1944, stirbt er in einem russischen Lager bei Jelabuga, einer tatarischen Stadt.
Im 70. Jahr nach dem Ende der Schrecken des 2. Weltkrieges erinnert uns Kurt Reuber an den bleibenden Beitrag für den Frieden. Er gibt uns ein Zeugnis tiefster Menschlichkeit, wie es – mit dem nötigen Respekt vor den damaligen Schreckensereignissen – in jede Zeit neu hineingesprochen werden muss.
Mensch, nicht Feind
Von seiner Zeit an der Ostfront ist ein Briefwechsel mit seinem Freund und Mentor Karl Bernhard Ritter erhalten.[1] In diesen Briefen prangert Reuber die äusserste Brutalität und Sinnlosigkeit des Kriegstreibens zwischen zwei Machthabern an. Er klagt über sein „infernum temporale“ (eine zeitliche Hölle) – eine „leere Wüste der Gottverlassenheit“. Was ihn vor allem zermürbt sind weniger die unaussprechlichen äusseren Leiden, als vielmehr die tiefste Erniedrigung des Menschen. Dieser Erniedrigung zu trotzen, sieht er als seine eigentliche Aufgabe an. Entgegen der nationalsozialistischen Ideologie über den slawischen Untermenschen wendet er sich der gedemütigten russischen Bevölkerung zu und hilft als Arzt. Reuber sieht nicht den Feind, sondern den Menschen in seiner unzerstörbaren Würde. Seine Haltung wird in einer Reihe von Porträts sichtbar, welche er von russischen Menschen – Frauen, Kindern, Alten, Darbenden – malt. Er entreisst sie so einer anonymen, malträtierten Masse, gibt ihnen ein Gesicht, einen Namen.
Ikonen der Menschlichkeit
Kurt Reuber ist getrieben von der Sehnsucht, in der „zeitlichen Hölle“ von Verblendung und Erniedrigung dem Wesen der Dinge auf den Grund zu gehen, tiefer zu sehen. Davon geben in besonderer Weise zwei seiner Gemälde Zeugnis.
Das erste entstand im Kessel von Stalingrad. Am Heiligen Abend 1942 bereitet Reuber dort seinen Kameraden eine eindrucksvolle Freude. Als die Männer den schützenden Bunker zur einsamen Weihnachtsfeier betreten, stehen sie gebannt, andächtig und ergriffen vor dem Bild einer Mutter mit Kind (Bild links). In sanften Linien umgibt der Mantel die beiden Gestalten. Mit menschlich kaum nachvollziehbarer Kühnheit setzt der Künstler dem Kessel von Stalingrad, dem Inbegriff von Dunkelheit, Tod und Hass, eine zarte Szene entgegen: Der Mantel ist wie ein bergender, schützender Kreis, und die Gesichter von Maria und dem Neugeborenen erscheinen den Betrachtenden in inniger Zuneigung. Hier sammelt sich der Blick. Daneben die Lettern „Licht, Leben, Liebe“. – Das Bild wurde später unter dem Namen „Madonna von Stalingrad“ bekannt und zu einem Symbol der Versöhnung.
Zum Weihnachtsfest 1943, kurz vor seinem Tod, zeichnet Kurt Reuber in Kriegsgefangenschaft ein weiteres Madonnenbild, das später unter dem Namen „Gefangenen-Madonna“ Verbreitung findet (Bild rechts). Die Darstellung des ersten Bildes wird hier auf seine wesentlichen Aussagen reduziert. Beide Gesichter sind schützend umgeben von einem dunklen Trauerkleid. Marias Augen sind weit offen und schweifen in die Weite. Das helle Licht zieht das Auge der Betrachtenden zum Kind hin. Es selbst scheint die Lichtquelle zu sein. Dieselben Symbolworte umgeben die Szene mit noch grösserem Nachdruck, als wollten sie sich tief einprägen: Licht – Leben – Liebe.
Dem Bild der „Gefangenen-Madonna“ hat Reuber einen Text beigefügt, den er für die erste Lagerzeitung in Jelabuga schrieb. Der Titel lautet „Weihnachtsbrief an eine deutsche Frau und Mutter“ – es ist der letzte Brief an seine Frau. Sein Schmerz über die Trennung und seine tiefe Sehnsucht nach der Geburt des weihnachtlichen Kindes gehen durch Mark und Bein. Der 37-Jährige hegt keine heroischen Weihnachtswünsche, bemüht keine Begriffe wie gerechter Friede und Kriegsende. Zu nüchtern beobachtet er, wie die Kriegstreiber weiterhin auf kriegerischer Auseinandersetzung beharren. Nichtsdestoweniger zeigt Reuber unbeirrt, wie der „grossen Weihnacht des Friedens, der Sonnenwende aller Schrecken“ der Weg zu bereiten ist: „Die erste Voraussetzung einer wahren Befriedung der Welt“, so schreibt er, liege „im allerpersönlichsten Leben“, im Abstellen jeglicher friedensverhindernden Taten bei sich selber.
Sehen wider allen Anschein
Menschen wie Kurt Reuber zeigen eine Sicht auf das Leben und die Weltgeschehnisse, eine Weise, sie zu deuten. Diese Menschen sind deshalb so glaubwürdig, weil sie sich der „ungetarnten Wirklichkeit“ stellen – stellen mussten. Angesichts der durchlebten Schrecken und der Ohnmacht verlieren ihre Worte und Bilder jeden frommen Schnörkel. Sie sind Seherinnen und Seher – gehen und sehen der Wahrheit auf den Grund. In dieser Hinsicht gewähren die beiden Madonnenbilder einen ehrfurchts- wie hoffnungsvollen Blick hinter den Schleier. Gegen allen Anschein erahnen wir durch ihn das Geheimnis, was die Welt im Innersten trägt und zusammenhält: Licht und Liebe und Leben. Es ist das Kind. Das geborgene Kind. Ursprung der Würde des Menschen und des Friedens. Weihnachten.
[1] Die Briefe sind erschienen im Buch: Frank Lilie, Herbert Naglatzki und Jürgen Renner (Hg.) „Wir müssen die Not der Menschen sehen“. Kurt Reuber und Karl Bernhard Ritter. Briefe aus dem Krieg, Hannover 2015.